Pokémon Go ist Pokémon Go ist Pokémon Go

Das Hypethema Pokémon Go ist immer noch erstaunlich lebendig. Großkonzerne und Armeen geben Regeln für das Smartphone-Spiel heraus, Düsseldorf ringt mit einer vermeintlich verkehrs- oder gar zivilisationsbehindernden Spieler-Schar. Überhaupt haben alle Leute in meiner Umgebung eine festgefügte Meinung zum Jagen virtueller Tierchen entwickelt. Es ist Sonntagmorgen und ich versuche Mal ein wenig die Gedanken zu sortieren.

1. Pokémon Go ist ein Spiel und kein Faschismus.

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2. Dass ich den Satz überhaupt aufschreiben muss, ist sehr deprimierend. Versuchen wir mal die optimistischste Deutungsart: Es ist gut, dass Leute über Pokémon Go reden. Allerdings nur, wenn sie nicht nur über Pokémon Go reden. Unser Leben ist radikalen Wandeln unterzogen. Und es passiert so schleichend, so unwiderstehbar, dass uns oft die Zeit fehlt mal innezuhalten und uns zu fragen: Was bedeutet es jetzt, dass ich mein neues Smartphone mit Fingerabdruck entsperren kann? Warum hat sich mein Arbeitsleben komplett geändert? Brauch ich wirklich WhatsApp um ein Sozialleben zu haben?

3. Mit „Innehalten“ meine ich nicht, dass wir im Kreis herumrennen, die Hände am Kopf, und dabei laut „Oh wei, oh wei, oh wei“ rufen. Auch das Feuilleton-Äquivalent dieser Verhaltensweise ist nicht erquickend.

4. Pokémon Go ist ein Spiel. Nur als Erinnerung zwischendurch.

5. Es ist ein Spiel, das auf Daten basiert. Das weckt berechtigte Befürchtungen. Wer nutzt diese Daten zu welchen Zwecken? Ich bin Ingress-Spieler und habe gelernt: Die Daten die bei meinen Ingress-Touren anfallen, taugen im Wesentlichen nur für Ingress. Niantic Labs erfährt nicht wirklich viel darüber, was ich außerhalb von Ingress mache. Sie haben sicher Daten zu meinem Tagesablauf, sie wissen, wann ich die Schlüssel aussortiere, die ich nicht mehr brauche. Damit anfangen konnten sie nichts. Stattdessen haben sie Sponsorenverträge geschlossen und Leute motivieren öfter an AXA-Versicherungsbüros vorbeizugehen. Ich habe die Versicherung nicht gewechselt.

6. Pokémon Go ist nicht ganz so daten-agnostisch. Soweit ich das gelesen habe, werden Lokalisierungsdaten auch an dritte Firmen weitergegeben, die dann daraus Umsätze generieren wollen. Dies könnte zum Beispiel so aussehen: Wenn ein Pokemon-Spieler an einem Laden vorbeikommt, wird ihm angezeigt: Hey, da ist ein tolles Sonderangebot für Dich. Und wir haben freies WLAN. Schon heute bezahlen einige Geschäfte für virtuelle Gegenstände im Shop von Niantic Labs, um potenzielle Kunden anzulocken. Wenn 200 Jugendliche zusammenkommen, wollen sie bald Burger, Limonade, Kaffee. Mein Smartphone ist viel zu langsam für Pokémon Go. Meine Eltern sollten mir bald ein neues kaufen! Wie das, dort im Schaufenster!

7. Viel mehr Daten fallen jedoch außerhalb des Spiels an. Wer Pokemon Go auf einem Android-Smartphone benutzt, teilt seinen Standort wahrscheinlich auch Google Maps mit. Daraus werden zum Beispiel Stauvorhersagen generiert. Oder Marktanalysen. Jeder kann das beobachten: Wenn man zum Beispiel einen Laden in Google Maps anklickt, dann sieht man mittlerweile auch, wann dort viel Betrieb ist. Wer mit Datentarif und Akkupack herumläuft, ist wahrscheinlicher über WhatsApp zu erreichen als über das Festnetztelefon. Milliardenumsätze verschieben sich.

8. Lasst uns zum Beispiel darüber reden, wann wir unsere Daten zur Verfügung stellen wollen. Lasst uns aber auch über positive Effekte von Datendiensten sprechen. Und über die negativen. Aber wir sollten mittlerweile über die echten Effekte sprechen können, nicht nur über die ausgedachten Folgen, die viel virtueller sind als ein Pokemon auf Deinem Sofa.

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9. Pokémon Go ist ein Spiel.

10. Ein faszinierender Aspekt von Pokémon Go und Ingress ist: Man kann es spielen, wenn man grade Zeit hat. Mein Gegenspieler muss nicht zur gleichen Zeit an der Arena stehen, damit wir unsere Spielfiguren gegeneinander antreten lassen können. Dass wir eine solche Spielweise zunehmend als notwendig erachten, liegt auch an unserem Alltag, der nicht mehr so reglementiert ist wie vor 20 Jahren. Fast jeder in der Medienwelt ist selbständig oder muss regelmäßig Überstunden schieben. Der REWE nebenan hat bis 23 Uhr offen, nicht mehr nur bis 18 Uhr. Das wöchentlich Fußballspiel dienstags Punkt 18:30 Uhr ist schwerer realisierbar als einst. Zumindest in meinem Umfeld.

11. Wenn Leute sich in einer virtuellen Welt verlieren, weil sie in der realen Welt den Anschluss verloren haben – welches davon ist das Problem? Gibt es überhaupt diese Kausalität? Oder gibt die virtuelle Welt neuen Anschluss? Lasst uns drüber reden. Brauchen wir ein neu strukturiertes Freizeitangebot für Leute, die bis 23 Uhr hinter der Kasse im Supermarkt sitzen? Wenn Leute per Pokémon Go in gefährliche Gegenden gelockt und überfallen werden – sind No-Go-Areas OK, sofern nur niemand hingeht, der nicht dort leben muss?

12. Pokémon Go ist ein Spiel.

13. Ein weiterer faszinierender Aspekt von Pokémon Go ist: Code is Law. Je nachdem, wie man die Regeln in der Fantasiewelt aufstellt, werden sich reale Verhaltensformen ändern. Und es ist nicht immer vorherzusagen, was passieren wird. Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert und das ist die größte Erkenntnis, die mir die Professoren vermitteln konnten: Man kann aus Erfahrungen Schlüsse ziehen, man kann Effekte messen. Man kann aber nicht in die Zukunft sehen.

14. Bei Pokémon Go kommen größere Menschenmassen zusammen als bei Ingress – zumindest wenn grade keine Anomaly veranstaltet wird. Wie kommt das? Lasst uns drüber reden. Nun, zum einen hat Ingress keine Pokémon. Wichtiger Punkt. Zum zweiten: Es gibt seltene Pokémon, die nur an bestimmten Orten gefangen werden können. Also kommen Spieler aus einem größeren Umkreis an ganz bestimmten Orten zusammen.

15. Dann gibt es aber auch die kostenpflichtigen Mods, mit denen man Pokemon anlocken kann. Wenn ein Spieler sie zündet, können viele andere Spieler profitieren. Wie gesagt: Geschäfte können das nutzen, oder sogar die Polizei. Wenn Niantic zu große Menschenmassen vermeiden wollte, könnten sie die PokeStops ab einer gewissen Überlastung ausbrennen lassen. Was unvorhergesehene Konsequenzen hätte. Und nicht unbedingt umsatzfördernd wäre. Bei Ingress wurden die Spielregeln immer wieder angepasst, um sich an die Gegebenheiten anzupassen. Um dem Spiel mehr Reiz zu geben. Oder die Cheater abzuschrecken. Lasst uns drüber reden.

16. Pokémon Go ist ein Spiel.

17. Es gibt keine Fairness bei Pokémon Go. Wer acht Stunden täglich spielen kann, hat nichts von einem Mitspieler zu befürchten, der berufstätig ist. Entweder lernen die Gelegenheitsspieler damit umzugehen, indem sie ihre Motivation beispielsweise aus dem netten Spaziergang ziehen. Oder man etabliert ein Teamleben, wo alle drei Teams ungefähr die gleiche Anzahl von Vollzeitspielern abbekommt. Wie regeln wir das? Wie etabliert man ein Teamleben?

18. Ich kenne Ehen und Kinder, die durch Wikipedia zu Stande gekommen sind. Das Internet ist ein Lebensraum. Und nicht jeder, den wir dort treffen, ist auch ein Creep. Lasst uns drüber reden.

19. Pokémon Go ist ein Spiel.

20. Lasst uns drüber reden. Aber richtig.

Die informierte Debatte

Heute morgen habe ich mal wieder gesehen, wie toll das Internet doch ist. Kaum hatte der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in seinem Auftritt vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium die NSA-Spähaffäre für beendet erklärt, erschien ein Tumblr-Blog mit dem vielsagenden Titel Pofalla beendet Dinge. Hier wird die Aussage des Politikers verhohnepiepelt: Neben verfremdeten Bildern des Politikers stehen Sprüche wie „Die Bauarbeiten am #BER erkläre ich hiermit für beendet“ oder „Aus meiner Sicht ist der Wahlkampf beendet. Merkel bleibt Kanzlerin!“

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Sicher: Das Ganze ist kein Höhepunkt der Satirekultur. Es ist der leichtfüßige Versuch, der eigenen Frustration Ausdruck zu verleihen und zu demonstrieren wie absurd doch die Debatte seitens der Bundesregierung ist. Da tauchen täglich neue Details auf, ernsthaft an den Grundfesten des Informationszeitalters rütteln — und die Bundesregierung verschanzt sich hinter einem pseudo-formalistischen Ansatz, der sich darauf beschränkt, welcher Paragraph denn erfüllt gewesen sein mag, ob Sitzungsgepflogenheiten eingehalten würden. Sähe das Gesetz vor, dass der BND-Chef täglich eine Stunde zu einer Wand sprechen müsste — wären wir heute wesentlich schlechter informiert?

Wie gesagt: Eine solche Auseinandersetzung mit den täglichen Nachrichten ist klasse. Sie zeigt eine Bereitschaft, sich mit aktuellen Geschehnissen zu beschäftigen und das Bemühen, sich nicht von der Kraft des vermeintlich alternativlos Faktischen unterkriegen zu lassen. Wir können nichts tun? Doch, wir können Euch zumindest auslachen.

Und doch: Ich vermisse die informierte Debatte. Im Fall NSA wird sie nicht nur von den USA, sondern auch von den deutschen Politikern sabotiert, die keine Chance sehen, dass sie hier etwas verändern können, und die im Wahlkampf ihr politisches Spiel damit spielen.

Doch selbst wo solche Kräfte nicht am Werk sind, sehe ich immer wieder, wie die informierte Debatte immer weiter verdrängt wird. Twitter-Slogans verdrängen Argumente, Bauchgefühl und Feindbilder übertrumpfen die Fakten. Ich versuche ein — man verzeihe das Klischee — ehrlicher Makler der Interessen meiner Leser zu sein. Ich bemühe mich zu schreiben, was sie interessieren sollte, und zu erklären was hinter den großen Schlagzeilen wirklich steckt. Doch da sind einfach zu viele Schlagzeilen.

In der vergangenen Woche machte zum Beispiel eine absonderliche Meldung der Piratenpartei Hamburg Schlagzeilen, dass Schulkinder gezwungen werden, Ihre Fingerabdrücke abzugeben, wenn sie in der Schulkantine essen wollen — sogar gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern. Ich rief bei dem zuständigen Dienstleister an und bekam bestätigt: Tatsächlich wurden bei Schülern einer Schule Fingerabdrücke genommen, bei denen es ausdrücklich nicht so sein sollte. Allerdings handelte es sich um eine Panne, die er mit akuter Überlastung zu Schuljahresbeginn erklärte.

Die vielen Schlagzeilen zum Thema sind nach meinem bisherigen Stand(!) jedoch falsch. Schüler müssen eben generell keine Fingerabdrücke abgeben, sondern haben immer zumindest eine Alternativ-Option: Eine Chipkarte oder — je nach Schule — auch die Barzahlung. Essen wurde ebenfalls keinem verweigert. Und im Gegenteil zu den Eltern, die zu Wort kommen, entscheidet sich die überwiegende Anzahl von Eltern für die Fingerabdruck-Lösung. All diese Fakten werden in der folgenden Pressemitteilung der Piraten übergangen, so wie die Pressemitteilung der Stadt Hamburg alle Aspekte der Diskussion unterdrückt, die legitime Kritikpunkte darstellen könnten.

Das hier soll kein Piraten-Bashing sein. Es ist im Gegenteil der übliche Verlauf solcher Debatten — egal, welche Partei oder Interessengruppe daran beteiligt sein mag. Es ist eine Blaupause um aneinander vorbei zu reden. Vielleicht können die Piraten einen Sieg verbuchen, wenn der Dienstleister ein Bußgeld zahlen muss oder gar die Fingerabdruckscanner aus einigen Schulen wieder verschwinden. Nach meinen Bauchgefühl wäre das zu begrüßen.

Doch die informierte Debatte unterbleibt wieder einmal: Wie kommt es, dass 75 Prozent der Eltern und mehr der biometrischen Erfassung ihres Nachwuchses zustimmen? Wo ist der Unterschied zwischen dem Fingerabdruck, dem individualisierten RFID-Chip in der Tasche der Kinder und dem Handy, das ebenfalls Kennungen absondert und mittlerweile bei der Tankstelle nebenan immer öfter das Bargeld ersetzt? Müssen wir der Tankstelle den nächsten Shitstorm verpassen, um unsere Privatsphäre zu retten? Oder schaffen wir es irgendwann mal eine gesellschaftliche Debatte zu führen und deren Ergebnisse auch umzusetzen?

Stellt echte Fragen und gebt echte Antworten

Das derzeitige Diskursklima gefällt mir nicht. Wenn Kommunikation Gräben aufwirft statt zu verbinden, wenn Leute mehr übereinander reden statt miteinander, dann ist dies nicht gut. Binsenweisheiten.

Doch was kann man dagegen tun? Das einzige Gegenmittel, das mir einfällt: Mehr lohnende Diskurse führen. Doch wie macht man das? Ein paar Ratschläge, die auch ich mehr beherzigen will.

  • Stell echte Fragen, nicht nur rhetorische. Du magst noch so viel zum Thema wissen — alles weißt Du nicht.
  • Im Gegenzug: Beantworte echte Fragen. Je überflüssiger Dir eine Frage vorkommt, um so einfacher solltest Du sie beantworten können. Kannst Du es nicht, war die Frage wohl nicht so dumm.
  • Lies, bevor Du schreibst. Im Zweifel hat schon jemand Deinen Punkt gemacht und Du kannst bei ihm noch einen Fakt beitragen.
  • Du kannst nur mit Leuten diskutieren, denen Du Respekt entgegenbringst. Wenn Du das nicht kannst, diskutiere nicht. Selbst wenn Du in der Sache noch so recht haben magst, mit Beleidigungen setzt Du dich nur selbst ins Unrecht.
  • Sei nicht faul. Viele Fragen lassen sich in Minuten klären, Links zu Deinen Faktenbehauptungen sind im Internet kein Luxus.
  • Deine Meinung ist Deine Meinung, schreib das auch ruhig dazu. „Ich bin der Überzeugung, dass“, „Ich glaube“, „IMO“ und so viele andere Formulierungen helfen Dir dabei und können Missverständnisse vermeiden.
  • Konzentriere Dich nicht alleine auf die Fehler anderer. Wenn jemand einen langen Beitrag mit Richtigem geschrieben hat, rede nicht alleine über den einen Fehler, den Du siehst.
  • Ein gereizter Tonfall gebiert weitere gereizte Tonfälle. Geht eine Runde um den Block, sieh Dir einen guten Film an, rede mit Freunden. Die Diskussion rennt nicht weg. Und wenn doch — was soll’s?
  • Meta ist Schmeta. Halte Diskussionen über Art und Form der Diskussion auf einem Minimum.
  • Wenn Du Dich zuerst fragst, welchem Lager Du einen Mitdiskutanten zuordnen musst, tritt einen Schritt zurück. Jemand kann ein Argument haben und dennoch zu einer anderen Grundüberzeugung als Du gekommen sein.
  • Beachte das Umfeld. Ironie und Analogien sind nicht unbegrenzt übertragbar. Erst recht nicht, wenn man Dich nicht kennt.
  • Vergiss den Spaß nicht. Ein Forum ist kein Doktoranden-Seminar. Und wer austeilt, sollte auch einstecken können.
  • Es gibt einen richtigen Zeitpunkt, um eine Diskussion zu verlassen. Es ist meist nicht der, wenn Du das letzte Wort hast.