Die Homophobie meiner Kindheit hatte nichts Spektakuläres. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo jeder katholisch war und alle meine Klassenkameraden beide Eltern hatten. Auf dem Schulhof hatten wir Jungs zwei Kategorien: Entweder etwas oder jemand war „cool“ oder „schwul“. Es ist einfach vorzustellen, was wir sein wollten. Unsere Ablehnung des Schwulen fand jedoch keinen Kristallisationspunkt. Denn niemand war schwul. Niemand von dem wir es erfuhren. Und so bleib es mir erspart, explizite Homophobie zu bezeugen.
Das erste Mal in wissentlichen Kontakt mit einem homosexuellen Mann kam ich in der sechsten oder siebten Klasse: Mein Musiklehrer. Es ist wohl gut, dass ich damals dieses Schulhof-Schimpfwort „schwul“ nicht mit ihm in Verbindung brachte, denn ich mochte ihn ganz und gar nicht. Er hatte enorme Stimmungsschwankungen: Mal schrie er herum, mal verteilte er aus heiterem Himmel Einsen. Und der Unterricht brachte gar nichts — bis auf den Tag wo wir Queen analysierten. Bohemian Rhapsody, Radio Gaga. Ich analysierte eine Tonfolge korrekt und bekam eine Eins. Auf dem Schulhof hörte ich wieder das Wort „schwul“ und einige andere, die nicht so nett waren. Aber er war Lehrer und wir im Grunde brave Schüler.
Bevor ich zum Studium in die Stadt gezogen bin, war ich ein Jahr lang Zivildienstleistender in einem Kloster — ich wohnte unter der Woche dort. Und ich merkte die Spannung, die wohl auch daher rührte, dass niemand seine Sexualität ausleben konnte. Und ich spürte auch Verachtung für diejenigen, die nicht allen männlichen Rollenklischees entsprachen, die zu feminin wirkten. Das Schwulenbild, das mir die Medien vermittelten half nicht wirklich dagegen anzugehen: Schwule ziehen sich wie Frauen an, und wollen Hetero-Jungs umdrehen. Echte Lesben — unvorstellbar und medial fast unsichtbar.
Als ich nach Köln kam wandelte sich das endlich. Als Studenten zogen wir auch mal in eine „Schwulen-Bar“ — was nicht wirklich hilfreich war und kein Zeichen für Toleranz ist. Ich bemerkte erst spät, dass ich mich ablehnend und misstrauisch gegenüber denen verhielt, die den üblichen schwulen Klischees entsprachen. Oder denen, die es eben nicht taten, die ich dann aber sah, wie sie jemanden küssten, der nicht meinem katholischen Kindheitsideal entsprach. Ich äußerte mal die Dummheit, wie toll es doch sein müssen schwul zu sein — man bekäme seine Identität quasi frei Haus geliefert. Dass diese Klischee-Identität nicht frei gewählt, sondern oft aus Diskriminierung zusammengezimmert war, hatte ich nicht kapiert. Ich war ja nicht betroffen.
Zum Glück lernte ich aber immer mehr homosexuelle Menschen außerhalb des Klischees kennen, außerhalb gesellschaftlicher Kontexte die sie auf ihre Sexualität festlegen. Und man stelle sich vor: Es sind ganz normale Menschen. Intellektuell war das keine Überraschung — warum sollte das nicht so sein? Emotional und unbewusst hingegen, war ich homophob. Ich hatte Vorbehalte, ich fremdelte, ich war abweisend. Ich beschimpfte niemand, aber stille Zurückweisung ist eben auch Ausdruck der Homophobie.
Von emotionalen Ressentiments kann man sich manchmal nicht völlig frei machen. Doch man kann diese Impulse, die einst eingeimpft wurden, zumindest zurückdrängen. Wer seine Mitmenschen respektiert, muss nicht mit ihnen Sex haben. Kein Homosexueller kann mich „umdrehen“, und keiner will es. In der Sauna, im Umkleideraum sind natürlich Homosexuelle. Die Furcht dass mir davon jemand was wegguckt oder gar meinen Körper unwiderstehlich findet, finde ich mittlerweile erheiternd.