Bullshit zum Duell

Eine Bullshit-Bingo-Karte für das TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück zu machen, erscheint mir ziemlich sinnlos. Erwarten wir wirklich, dass die beiden Politiker von den Argumentationspfaden abweichen, die sie in den letzten Wochen ausgiebig ausgetestet haben? Sollten sie Klischees vermeiden, nach denen die Zuschauer doch dürsten? Wo ist der Punkt?

Aber trotzdem müsst ihr nicht darauf verzichten: Hier ist die Bullshit-Karte für Eure Timelines. Wer auf Twitter, Facebook, Google+ oder meinetwegen in der Kneipe neben Euch vier Begriffe in Reihe verkündet, qualifiziert nicht weiter angehört zu werden. Er schaut Duelle um sich aufzuregen, zeichnet sich durch ein verengtes Denken aus und oder oder ist einfach langweilig.

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Die informierte Debatte

Heute morgen habe ich mal wieder gesehen, wie toll das Internet doch ist. Kaum hatte der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in seinem Auftritt vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium die NSA-Spähaffäre für beendet erklärt, erschien ein Tumblr-Blog mit dem vielsagenden Titel Pofalla beendet Dinge. Hier wird die Aussage des Politikers verhohnepiepelt: Neben verfremdeten Bildern des Politikers stehen Sprüche wie „Die Bauarbeiten am #BER erkläre ich hiermit für beendet“ oder „Aus meiner Sicht ist der Wahlkampf beendet. Merkel bleibt Kanzlerin!“

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Sicher: Das Ganze ist kein Höhepunkt der Satirekultur. Es ist der leichtfüßige Versuch, der eigenen Frustration Ausdruck zu verleihen und zu demonstrieren wie absurd doch die Debatte seitens der Bundesregierung ist. Da tauchen täglich neue Details auf, ernsthaft an den Grundfesten des Informationszeitalters rütteln — und die Bundesregierung verschanzt sich hinter einem pseudo-formalistischen Ansatz, der sich darauf beschränkt, welcher Paragraph denn erfüllt gewesen sein mag, ob Sitzungsgepflogenheiten eingehalten würden. Sähe das Gesetz vor, dass der BND-Chef täglich eine Stunde zu einer Wand sprechen müsste — wären wir heute wesentlich schlechter informiert?

Wie gesagt: Eine solche Auseinandersetzung mit den täglichen Nachrichten ist klasse. Sie zeigt eine Bereitschaft, sich mit aktuellen Geschehnissen zu beschäftigen und das Bemühen, sich nicht von der Kraft des vermeintlich alternativlos Faktischen unterkriegen zu lassen. Wir können nichts tun? Doch, wir können Euch zumindest auslachen.

Und doch: Ich vermisse die informierte Debatte. Im Fall NSA wird sie nicht nur von den USA, sondern auch von den deutschen Politikern sabotiert, die keine Chance sehen, dass sie hier etwas verändern können, und die im Wahlkampf ihr politisches Spiel damit spielen.

Doch selbst wo solche Kräfte nicht am Werk sind, sehe ich immer wieder, wie die informierte Debatte immer weiter verdrängt wird. Twitter-Slogans verdrängen Argumente, Bauchgefühl und Feindbilder übertrumpfen die Fakten. Ich versuche ein — man verzeihe das Klischee — ehrlicher Makler der Interessen meiner Leser zu sein. Ich bemühe mich zu schreiben, was sie interessieren sollte, und zu erklären was hinter den großen Schlagzeilen wirklich steckt. Doch da sind einfach zu viele Schlagzeilen.

In der vergangenen Woche machte zum Beispiel eine absonderliche Meldung der Piratenpartei Hamburg Schlagzeilen, dass Schulkinder gezwungen werden, Ihre Fingerabdrücke abzugeben, wenn sie in der Schulkantine essen wollen — sogar gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern. Ich rief bei dem zuständigen Dienstleister an und bekam bestätigt: Tatsächlich wurden bei Schülern einer Schule Fingerabdrücke genommen, bei denen es ausdrücklich nicht so sein sollte. Allerdings handelte es sich um eine Panne, die er mit akuter Überlastung zu Schuljahresbeginn erklärte.

Die vielen Schlagzeilen zum Thema sind nach meinem bisherigen Stand(!) jedoch falsch. Schüler müssen eben generell keine Fingerabdrücke abgeben, sondern haben immer zumindest eine Alternativ-Option: Eine Chipkarte oder — je nach Schule — auch die Barzahlung. Essen wurde ebenfalls keinem verweigert. Und im Gegenteil zu den Eltern, die zu Wort kommen, entscheidet sich die überwiegende Anzahl von Eltern für die Fingerabdruck-Lösung. All diese Fakten werden in der folgenden Pressemitteilung der Piraten übergangen, so wie die Pressemitteilung der Stadt Hamburg alle Aspekte der Diskussion unterdrückt, die legitime Kritikpunkte darstellen könnten.

Das hier soll kein Piraten-Bashing sein. Es ist im Gegenteil der übliche Verlauf solcher Debatten — egal, welche Partei oder Interessengruppe daran beteiligt sein mag. Es ist eine Blaupause um aneinander vorbei zu reden. Vielleicht können die Piraten einen Sieg verbuchen, wenn der Dienstleister ein Bußgeld zahlen muss oder gar die Fingerabdruckscanner aus einigen Schulen wieder verschwinden. Nach meinen Bauchgefühl wäre das zu begrüßen.

Doch die informierte Debatte unterbleibt wieder einmal: Wie kommt es, dass 75 Prozent der Eltern und mehr der biometrischen Erfassung ihres Nachwuchses zustimmen? Wo ist der Unterschied zwischen dem Fingerabdruck, dem individualisierten RFID-Chip in der Tasche der Kinder und dem Handy, das ebenfalls Kennungen absondert und mittlerweile bei der Tankstelle nebenan immer öfter das Bargeld ersetzt? Müssen wir der Tankstelle den nächsten Shitstorm verpassen, um unsere Privatsphäre zu retten? Oder schaffen wir es irgendwann mal eine gesellschaftliche Debatte zu führen und deren Ergebnisse auch umzusetzen?

Guttenberg entpolarisiert

„Nein, das ist nicht zuende“. Als ich am Wochenende auf einer Geburtstagsparty, war, kamen wir natürlich auch auf Guttenberg zu sprechen. Ich gab meinem Gegenüber recht, dass die mediale Berichterstattung nervt — ich gab ihm ganz und gar nicht recht, dass das Thema mit der Rückgabe des Doktortitels erledigt sei.

Was mir auffällt: es gibt kaum jemanden, mit dem man normal und reflektiert zum Thema reden kann. Als der Skandal zum ersten Mal aufkam, erwähnte ich, dass Guttenberg schon früh mit der BILD ins Bett gestiegen sei. Die Antwort verstörte mich schon fast: „Und wenn es so wäre, würde ich es nicht glauben“. Im Gegenzug schicken mir andere Freunde E-Mails mit triumphalen Betreffzeilen „Der Fatzke geht von Bord“. Ist es dem Karneval geschuldet, dass wir keinen Diskurs mehr führen können, der nicht von beiden Seiten ei n Stück Realitätsverleugnung verlangt? Versuchen wir es Mal.

Ja: Guttenberg ist ein politisches Talent. Man mag naserümpfend darüberstehen, aber Menschen für eine Sache zu begeistern ist Teil der Politik. Selbst wenn der Politiker in erster Linie sich selbst als Mission sieht – nur durch einen gewissen Populismus, lässt sich die Gesellschaft auch Mal auf einen anderen Kurs lenken. Der Krieg in Afghanistan hatte schon fast einen Anstrich, als sei dies eine Operation des Bundesverwaltungsamts, Außenstelle Hindukusch. Guttenberg hat es geschafft, den Blick zu den Soldaten zu lenken, er hat es geschafft den Menschen, die wir, beziehungsweise unsere Volksvertreter losgeschickt haben, das Gefühl zu vermitteln gehört zu werden. Und er konnte politische Erdbeben auslösen, wo sie nötig waren. Wer außer Guttenberg hätte die CSU davon überzeugen können, den seit Jahrzehnten immer absurderen Zustand der Bundeswehr neu zu überdenken?

Nein: Guttenberg war in meinen Augen kein guter Politiker. Viel weiter als bis zur Inszenierung ist Guttenberg nie gekommen. Ich glaube nicht, dass er die Bundeswehrreform auch nur ansatzweise organisieren konnte. Er hatte den Respekt der Soldaten, doch was hat das geändert? Die Soldaten beschweren sich darüber, dass sie mit Afghanen zusammenarbeiten müssen, die ihnen vielleicht in den Rücken schießen — woher wissen sie das schon? Guttenberg hat die Soldaten von sich überzeugt, aber nicht von seiner Politik. Er hielt an der Methode fest, konnte aber seinen Untergebenen auch keine Perspektive vermitteln, wo es denn hinführt. Da hört mir einer zu. Aber ändern tut sich doch nichts.

Ja: die mediale Aufarbeitung der Affäre Guttenberg erschien unverhältnismäßig. In Nordafrika wird Weltgeschichte geschrieben und wir kümmern uns nur noch um unseren eigenen Bauchnabel? Nicht nur eine, sondern zwei, gleich drei Wochen lang? Natürlich spielt eine gewisse Missgunst eine Rolle. Teilweise sind es die gleichen Leute, die Guttenberg hochgeschrieben haben, die sich nun über ihn entrüsten. Dass Guttenberg die Bundespressekonferenz vor den Kopf stieß und den Hauptstadtjournalisten beweisen wollte, dass er ohne sie auskäme — das haben sie ihm nicht verziehen. Medien sind Tendenzbetriebe, Journalisten sind Menschen. Und oft auch Akademiker.

Nein: die Journalisten haben Guttenberg nicht abgeschossen. Das war er selbst. Er muss seinen Betrug gekannt haben, hat sich aber bis heute nicht dazu bekannt, er spricht nur sehr vage von Fehlern. Jeder andere Bundesminister hätte eine Woche vor Guttenberg zurücktreten müssen. Stattdessen forderte Guttenberg Solidarität ein, verspielte politisches Kapital, über das er vor zwei Wochen noch überreichlich verfügen konnte. Doch jedes neue Bundestagsgutachten, jedes peinliche Vorschützen der Bundeswehr-Soldaten, kostete reichlich. Auch Politiker sind oft Akademiker.

Ja: natürlich überschütten Gabriel und Trittin ihn mit Häme. Aber wann hat die Opposition schon einmal so eine Einladung bekommen? Mir fällt nur das Ehrenwort Helmut Kohls ein, als der Altkanzler die Bevölkerung vor den Kopf stieß. Ja: Guttenberg die Schuhe zu zeigen, wie es die Ägypter mit Mubarak taten, war in meinen Augen lächerlich. Guttenberg war kein Mubarak, die Demonstranten mussten ihr Leben, ihre Familie nicht riskieren, um ihre Meinung zu äußern.

Nein: Guttenbergs Doktorarbeit ist keine harmlose Schummelei in der Mathe-Arbeit und auch kein schwerer Raub. Es ist einen jahrelanger, kalkulierter Betrug — vermeintlich ohne Opfer. Keinesfalls ein Einzelfall, aber selbst in der Masse werden die Missetäter schnell abgeurteilt.

Nein: Bisher gibt es keinerlei Indiz, dass die Pro-Guttenberg-Gruppen zusammengekauft wurde. GZSZ-Fans versammeln sich bei RTL.de und Facebook hat den Netzwerk-Effekt auf die Spitze getrieben: Gruppen, die viel Zulauf haben, tauchen besonders häufig im Live Feed auf. Auch die enorme Anzahl alleine ist noch kein Indiz für faules Spiel. Zum Vergleich: die Holofernes-Absage an BILD und Jung von Matt erhielt 54000 Facebook-Likes – und konnte nicht eine Woche lang Fahrt aufnehmen. Facebook polarisiert gerne, um Klicks zu generieren.

Netzneutralität für Fortgeschrittene

Drüben auf dem Planeten Rot-Grün gibt es grade eine Petition Unterschriftenliste Pro Netzneutralität. Und es geht um wichtiges:

Ein freies und barrierefreies Internet ermöglicht es, dass innovative Produkte und Dienstleistungen überall auf der Welt angeboten werden können. Dies fördert Innovationsprozesse.

Das ist zwar korrekt – ohne Netzneutralität hätten wir heute in Deutschland vielleicht ein stark ausgebautes BTX an Stelle des Internets. Niemand will das. Aber Netzneutralität kann man auf so viele Weisen interpretieren, dass letztlich auch René Obermann den Appell unterschreiben könnte. Machen wir es daher etwas konkreter: Statt dem gefälligen „Seid ihr für Netzneutralität?“ sollte man vielleicht spezifischer fragen:

  • Wer soll ein Internet „ohne staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe“ durchsetzen, wer entscheidet wann sie von einem Provider gebrochen wurde? Die Bundesnetzagentur nach den Vorgaben von Enquette-Kommission, Bundestag und Wirtschaftsministerium? Eine amerikanische Regierungsbehörde?
  • Darf die Telekom Bandbreite für ihr T-Entertain-Multicast reservieren oder soll im Zweifel das Fernsehbild gestört werden, wenn ein besonders großer Download läuft?
  • Darf mein Voice-over-IP-Telefon meinem Provider signalisieren, dass ein Telefongespräch unfreundlicher auf Verzögerungen im Datenfluss reagiert als die E-Mail, die ich parallel abschicke?
  • Darf ein Mobilfunkprovider gesonderte Datentarife für das neuste iPhone erheben? (Zusatzfrage: wenn ihr dagegen seid, warum kauft ihr es dann massenhaft?)

Proselyten

Jürgen Kuri hat einen interessanten Artikel über die notwendige Aufklärung im digitalen Zeitalter geschrieben.

Die ideologiegetränkten Debatten Internet-Versteher vs. Endzeit-Propheten unter gelegentlichen Einwürfen eines Internet-Ausdruckers vulgo: Internet-Nichtverstehers sind nur noch langweilig. Und letztlich selbstreferentiell – stehen doch auf beiden Seiten selbst ernannte Eliten, die den Mob lediglich als positiv besetztes oder schrecklich dräuendes Proselyten-Material ansehen. Der Mob schaut verwundert ob der Misse- oder Wundertaten, die ihm da zugeschrieben werden. Seiner Wege zu ziehen aber fällt ihm schwer: In dieser digitalen Welt fehlen allzu oft genau die Informationen, um die Entscheidung fällen zu können, welche Misse- oder Wundertat denn nun als nächstes zu vollbringen ist.

Für die Feuilleton-Nichtversteher eine kurze Erklärung: Die Proselyten sind die total Überzeugten, die dennoch nicht ganz verstanden haben, was der Kern der Sache ist. Diejenigen, die jedem ein Du hast das Internet nicht verstanden ins Gesicht schleudern, wenn sie mit einer Ansicht konfrontiert werden, die in Ihrem selbst gewählten Twitter-Umfeld sonst nicht gepflegt wird. Die ein Argument nicht von einer Ansicht unterscheiden können. Die zum Beispiel „Respekt vor dem Selbstmord“ fordern, da sie nicht verstehen, was simpler Anstand bedeutet aber irgendwo mal etwas von „Respekt“ und „Tod“ gehört haben.

Statt mentale Filter einzurichten, die Sinn von Unsinn, Banalität von Relevanz, Provokation von Argumentation trennen, ist es viel bequemer sich einen Filter nach dem Weltbild einzurichten. Es ist nicht wichtig, was genau jemand gesagt hat, wichtig ist zuerst die Haltung. Ist ein Artikel für oder gegen die Piratenpartei? Geht es um menschengemachte globale Erwärmung oder Klimaverschwörung? Ist Apple das Beste der Welt oder ihr Untergang? ARD == GEZ. Und die Politiker sind alle Gauner! Schublade auf, Denken ist optional.

Wenn man sieht, welche Links in Twitter ständig weitergereicht werden, was ganz oben auf der Linksuppe schwimmt, wird man wenig optimistisch. Denn wer geklickt werden will, sollte sich ins Extrem flüchten. Auf die größten Peinlichkeiten der Gegenseite zeigen und den Rest tunlichst ignorieren. Das ist nicht nur einfach, es will plötzlich auch jeder mitreden. Und ganz langsam ist das Extrem der Debatte dann der Konsens des eigenen Umfelds. Und mit den Leuten am anderen Ende der Debatte, da wollen wir erst gar nicht reden. Das sind Internetausdrucker, die sind einfach #fail.

Vor ein paar Wochen hatte ich die Gelegenheit mit Jimmy Wales zu sprechen. Der schlug einen einfachen ersten Schritt auf dem Weg zu einer gesitteten Debatte vor:

Man darf nicht nur die Leute zurechtweisen, die anderer Meinung sind. Ab und zu sollte jeder sagen: Ich stimme Dir sachlich zu, aber Du solltest andere Leute nicht so anfahren. Es gibt aber kein Allheilmittel, kein Computerprogramm, das erregte Debatten findet. Im Wesentlichen müssten wir alle uns darum kümmern, eine gesittete Debatte zu führen.