Wahlkampf – schon wieder. Es ist deprimierend. Aber wann ist denn Mal gerade kein Wahlkampf? Wo sind die raren Inseln, in der die politische Auseinandersetzung noch Argumente und Grautöne kennt und nicht nur das alte „Wir gegen die – die gegen uns!“-Spiel? Aber finden wir uns damit ab: Was in den nächsten Wochen aus den Mündern, Tastaturen und Parteiapparaten der Nahles‘, der Lindners oder Dobrindts fließt, wird bestenfalls eine grob verzerrte Version der Realität sein, die Deutschland in Lager einteilt.
Das eigene Lager vergrößert man offenbar am erfolgreichsten, indem man sich vom anderen Lager „abgrenzt“, also möglichst schlecht über andere Leute und ihre Standpunkte redet. Und wenn man den Bogen überspannt hat, redet man einfach weiter, bis die Gegenseite den Bogen noch mehr überspannt und man sich selbst wieder als Opfer des anderen Lagers vermarkten kann.
Das Deprimierende: Jetzt, wo jeder Bürger quasi ein Publizist ist, sehen wir, dass „die da oben“ kein Monopol auf dieses Denken haben. Ein erschreckend großer Anteil der Kommentare, die ich auf Twitter, in Foren und anderen Kanälen lese, funktionieren genau nach diesem Prinzip. Folge: Sobald jemand „shitstorm“ ruft, schalte ich mein Hirn auf Durchzug. Denn wann hat ein Shitstorm schon Mal der Erkenntnis gedient? Und wenn demonstrative Unvernunft und Ignoranz garantierte Klickerfolge bringt, dann ist das Ergebnis für beide Seiten desaströs. Der doofste und lauteste gewinnt.
Besonders deprimierend finde ich den doppelten Standard, den scheinbar mittlerweile jedermann stolz vor sich herumträgt. Sieht man zum Beispiel Hevelings Handelsblatt-Kommentar als „einseitig“ oder als dämlichen Appell an Ressentiments der eigenen Ziel- und Interessensgruppen, die politische Unaufrichtigkeit mit einem quälenden Sprachstil verbindet? Und: Wenn ein Beitrag mit ähnlichen Mitteln an die eigenen Ressentiments appeliert — ist man intellektuell fähig, dies zu erkennen und integer genug, dies mit einem ähnlichen Maßstab zu beurteilen?
Lasst es uns doch so halten: Reden wir nur noch über politisch gehaltvolle Beiträge. Hat Sebastian Nerz etwas Neues gesagt? Hat Erika Steinbach — trotz ihrer geballten Steinbachheit — mit einem Argument gar recht? Kann man aus dem Streit zwischen Innenministerium und Justizministerium etwas lernen, wie man etwas besser machen kann? Also: Tatsächlich besser machen, nicht nur fordern oder fantasieren? Falls wir all die Fragen verneinen müssen, dann sollten wir den Beitrag ignorieren.
Ich weiß: Uns bezahlt keiner dafür, gehaltvolle Debatten zu führen. Wir haben nicht die Zeit, alles von beiden Seiten zu betrachten. Aber mit einem Mindestmaß an Selbstreflexion sollte es doch gelingen, deutlich besser dazustehen als die bezahlten Wahlkämpfer. Integrität braucht kein Mandat und keinen Gehaltscheck.