Schon vor einigen Tagen veröffentlichten Geert Lovink und Patrice Riemens zehn Thesen zu Wikileaks. Sie sind viel zu lang und komplex, um sie in 140 Zeichen zusammenzufassen – deshalb hat sie wohl kaum einer gelesen. Das sollten alle Wikileaks-Interessierten schleunigst nachholen: Lovink und Riemens schieben den Hype beiseite und klopfen Konzept und Umsetzung von Wikileaks ab.
Kurze Zusammenfassung:
- Das Veröffentlichen von Geheimdokumenten ist nicht neu, aber mit dem Publizieren der „Afghan War Logs“ hat Wikileaks zweifellos einen neuen Höhepunkt gesetzt. Dieses gewaltige wurde durch die dramatisch gesunkenen Kosten von Informationshaltung und Weitergabe möglich: auf der einen Seite horten Regierungen und Unternehmen riesige Aktenberge, auf der anderen Seite kann jedes kleine Leck diese Informationen offenbaren.
- Wikileaks ist quasi aus dem Nichts aufgetaucht und steht auf dem internationalen Parkett neben Akteuren wie dem viel größeren Pentagon. Dies sorgt bei den Aktivisten verständlicherweise für viel Selbstbewusstsein – fraglich ist jedoch, ob sich das Projekt auf Dauer hier etablieren kann.
- Mit seinen Angriffen auf die US-Regierung und die Kriege in Irak und Afghanistan hat Wikileaks ein dankbares Ziel ins Auge gefasst. Bereits seit Jahren wird vom Abstieg der Weltmacht USA geschrieben. Die Wikileaks-Publikationen passen prima ins Bild und werden daher von Journalisten und Öffentlichkeit begierig aufgenommen. Andere Ziele wie Russland, China oder auch
Taiwan Singapur sind eine größere Herausforderung.
- Wikileaks zu analysieren fällt schwer, da sich auch die Aktivisten selbst noch nicht auf eine Rolle für Wikileaks geeinigt haben: publiziert man nur Informationen oder will man sie selbst analysieren?
- Der investigative Journalismus leidet sehr an dem im Vergleich zu früher sehr viel höheren Schritt-Tempo der Nachrichtenverarbeitung – komplizierte oder komplexe Geschichten können in kommerziellen Medien kaum noch erzählt werden. Wikileaks bietet sich hier als externe Plattform für diese Geschichten an – hat aber noch nicht wirklich einen Weg gefunden die gewaltige Aufmerksamkeit in Aufklärung umzusetzen. Tausende Dokumente stehen online, aber nur wenige werden wirklich gelesen und verstanden.
- Die Organisation Wikileaks ist absolut auf ihren Gründer Julian Assange zugeschnitten. Das kann ihr zum Vorteil gereichen, da Assange autonom und schnell agieren kann, als charismatischer Anführer kann er Leute begeistern. Allerdings ist dies zugleich auch eine Schwäche, da die ganze Organisation leidet, wenn ihr Gründer Fehler macht.
- Wikileaks ist eine Verkörperung der Hacker-Ethik der Achtziger Jahre. Die Geeks sind technisch sehr fit und idealistisch, haben aber auch den Hang zu Arroganz und Verschwörungstheorien.
- Das Publikum von Wikileaks ist zwar sehr enthusiastisch, wird aber bisher nicht wirklich in die Arbeit eingebunden und ist nur durch ständig neue spektakuläre Enthüllungen bei der Stange zu halten.
- Wikileaks ist intransparent. Das mag es einfacher machen, andere zur Transparenz zu zwingen, aber gleichzeitig wird Wikileaks selbst zum Ebenbild der Geheimniskrämer von Pentagon und Co. So bleibt die Frage offen, für welches organisatorische Modell sich die Plattform entscheiden wird – oder gar eine neue findet.
- Trotz aller Abwägungen und Mängel: Wikileaks hat der Transparenz, Offenheit und Demokratie einen guten Dienst geleistet.
Wie gesagt: das ist eine kurze Zusammenfassung – das Original ist hier.
P.S.Zugegeben: die Thesen sind weder spektakulär, noch gehen sie sehr weit in die Tiefe – sie sind aber immerhin ein Beginn. Sie gewinnen viel an Wert, wenn man sie mit dem vergleicht, was derzeit sonst zu Wikileaks publiziert wird.
So schreibt der NBC „National investigative correspondent“ Michael Isikoff:
Nearly 40 years before the Obama White House denounced the WikiLeaks website for publishing classified documents, another president, Richard Nixon, was even more obsessed with the same phenomenon.
Hier sehen wir sehr schön These 5 am Zug. Einer sehr gut bezahlter Journalist verweist auf Wikileaks, weil er sich nicht mehr an Journalisten erinnert, die ihre Arbeit machen. Oder glaubt er lediglich, dass sich sein Publikum nicht erinnert? Aber nein, er treibt den Vergleich weiter:
The White House obsession with Anderson — whose „Washington Merry Go-Round“ column was the WikiLeaks of its day
Ja, eine Zeitungskolumne war genau das gleiche wie Wikileaks – bis auf die Tatsache, dass sich Wikileaks in so ziemlich allen relevanten Kriterien (wie zum Beispiel Arbeitsweise, Erscheinungsform, Struktur, Anspruch und Wirkung) fundamental von einer Zeitungskolumne unterscheidet. Aber wenn man davon absieht, sind beide Dinge so gut wie identisch. Geheimnisse und so.
Aber wie sehr der Aktualitätsdruck das Hirn dieses Investigaten vernebelt hat, offenbart sich aber zwei Absätze später:
As Feldstein writes, the plot was the culmination of a 40-year feud that dated back to the early 1950s, when Anderson uncovered a secret slush fund that wealthy backers had set up to financially support Nixon. That discovery led to Nixon’s nationally televised “Checkers” speech, in which he vowed to keep the new cocker spaniel he had bought for his daughters.
Man muss kein allzu großer Kenner amerikanischer Geschichte sein, um zu wissen, dass Nixon den Hund eben nicht gekauft hatte, sondern das Geschenk eines Nixon-Fans war. Der Politiker benutzte den niedlichen Hund, um Berichte über illegale Vorteilnahmen zu zerstreuen. Eine Sternstunde der manipulativen Wirkung des Fernsehens: die Zuschauer saßen den niedlichen jungen Hund mit Nixons Töchtern – und alles war vergessen. Tricky Dick trug seinen Namen zu recht. Und auch 40 Jahre später zeigt die Methode noch Wirkung – bedauerlicherweise bei Leuten, die das Wort „investigative“ im Jobtitel führen.