„Polizeilich erforderlich“

Der AK Vorratsdatenspeicherung übt sich derzeit in einer merkwürdigen Informationspolitik: um einer vermeintlichen „BKA-Propaganda“ entgegenzutreten, lesen die Internetaktivisten aus wenig bis gar nicht aussagekräftigen Zahlen das Gegenteil dessen heraus, was denn die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung behaupten.

Nach einer ausführlichen Analyse unsererseits sind die BKA-Zahlen „irrelevant“ und belegen „keine blinde Flecken in der Verbrechensbekämpfung oder Schutzlücken“. Auch Dr. Michael Kilchling vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg kritisierte: „Für eine seriöse wissenschaftliche Stellungnahme fehlt jede Basis“. Dennoch ist ausgerechnet die Bundesjustizministerin dem unhaltbaren, vom Bundesinnenminister im Rahmen einer politischen Kampagne in Auftrag gegebenen BKA-Bericht aufgesessen.

Der Widerspruch liegt auf der Hand: wenn das Material keine wissenschaftlich fundierten Aussagen erlaubt, sind sowohl die Aussagen der Befürworter als auch die Aussagen der Gegner einer Vorratsdatenspeicherung gleichermaßen unfundiert. Die „Propaganda“ des einen ist die „Analyse“ des anderen.

Dabei ist der AK Vorrat auf eine argumentative Goldgrube gestoßen: Die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung ist eben auch nur sehr eingeschränkt effektiv:

Die vom Justizministerium offenbar übernommene Behauptung des Bundeskriminalamts, 72,82% nicht beantworteter Auskunftsersuchen beträfe „die Straftatbestände Verbreitung, Erwerb oder Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften“, ist auf abenteuerliche Art und Weise zustande gekommen: Beispielsweise lagen 209 der vom BKA ergebnislos angefragten Internetverbindungen länger als 10 Tage zurück, die Anfragen waren wegen der dem BKA bekannten, kürzeren Speicherfristen der Provider von vornherein sinnlos. 147 weitere angefragte Internetverbindungen lagen sogar länger als sechs Monate in der Vergangenheit!

Die hier nicht erwähnten Schlussfolgerungen sind:

  • Die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung wird weniger positive Effekte haben als dargestellt und
  • nach der Einführung einer sechsmonatigen Speicherung wird es auch wieder Forderungen nach einer Ausweitung der Speicherfrist geben.

Der AK Vorrat nimmt dies zum Anlass die Vorratsdatenspeicherung mit der kompletten Kriminalstatistik aufzurechnen, was allenfalls Spielerei ist — selbst Herr Ziercke hat nirgends behauptet, dass er mit der Vorratsdatenspeicherung zum Beispiel die einfache Diebstähle verhindern oder die Aufklärung derselben erhöhen könnte.

Aber ein genauerer Blick in das vom AK Vorrat verlinkte offizielle BKA-Dokument offenbart Mängel in der Darstellung – mögen sie auf Schludrigkeit oder Absicht zurückgehen.

Auf Seite 12 heißt es:

g.) Polizeilich erforderlicher Zeitraum der Speicherung
Abschließend wurde bezüglich der negativ beschiedenen Auskunftsersuchen erhoben, für
welchen Mindestzeitraum eine Speicherung der Verkehrsdaten aus polizeilicher Sicht
erforderlich gewesen wäre.
Die Verteilung betreffend des aus polizeilicher Sicht für erforderlich erachteten
Mindestspeicherzeitraums stellt sich wie folgt dar:
In

  • 24,09 % der Fälle (212 Anschlüsse, davon 211 IPs) wäre ein Mindestspeicherzeitraum
    von einem Monat,
  • 49,55 % der Fälle (436 Anschlüsse, davon 404 IPs) wäre ein Mindestspeicherzeitraum
    von zwei bis fünf Monaten und in
  • 26,36 % der Fälle (232 Anschlüsse, davon 215 IPs) wäre ein Mindestspeicherzeitraum
    von sechs Monaten

erforderlich gewesen.

Lange Rede, kurzer Sinn: mit der sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung wäre der „polizeilichen Erforderlichkeit“ voll Genüge getan.

Auf dem Erhebungsbogen Seit 49 und 50 der PDF-Datei findet sich jedoch zum Beispiel dieser Fall:

Umfangreiches Ermittlungsverfahren der brasilianischen Bundespolizei gegen mehrere brasilianische Tatverdächtige mit internationalen Bezügen wegen Besitzes und Verbreitung von kinderpornographischem Material über das Filesharing-Netzwerk von Gigatribe. Über den BKA-VB Brasilia wurden 147 IP-Adressen und 17 Gigatribe-Nicknames zu potentiellen deutschen Tatverdächtigen übermittelt. Anhand der festgestellten IP-Adressen, denen zur jeweiligen Tatzeit die von den Tatverdächtigen verwendeten Gigatribe-Pseudonyme (Nicknames) zugeordnet waren, wurden auch Bezüge nach Deutschland hergestellt. Die Zeitstempel der IP-Adressen (Tatzeiten) bewegen sich zwischen dem 29.05.2009 und dem 11.09.2009. Die diesbezüglich am 25.05.10 – sofort nach Eingang der Informationen aus Brasilien – bei den betreffenden deutschen sechs Providern durchgeführten Anschlussinhaberfeststellungen verliefen negativ.
Eine eindeutige Täteridentifizierung hinsichtlich der von der brasilianischen Polizei mitgeteilten Nicknames war nicht möglich, da Pseudonyme in Gigatribe nicht zwingend (vor allem über einen längeren Zeitraum hinweg) personenbezogen sind.
Insofern wären Täteridentifizierungen zu dem von der brasilianischen Polizei mitgeteilten Sachverhalt nur über eine IP-Anschlussinhaberfeststellung unter Angabe der relevanten
Tatzeiten über die entsprechenden deutschen Provider möglich gewesen. Diese Daten liegen aufgrund des BVerfG-Urteil nicht mehr vor.

Darüber heißt es:

Polizeilich wäre eine Speicherung der Verkehrsdaten für folgende Dauer erforderlich gewesen: 6 Monate

Hier hat der Beamte offenkundig zwei Mal die Unwahrheit im Erhebungsbogen vermerkt: Die Daten lagen nicht „aufgrund des BVerfG-Urteils“ nicht mehr vor – sie hätten auch vor dem Urteil nicht vorgelegen.

Aus Formular-Sicht eine Vorratsdatenspeicherung von über einem Jahr „polizeilich erforderlich“ gewesen um die Täter zu überführen. Wenn man das Formular beiseite lässt und den gesunden Menschenverstand einschaltet, wäre hingegen eine bessere internationale Zusammenarbeit der Polizeibehörden erforderlich gewesen.