Ich habe in den letzten Jahren und besonders in letzter Zeit einige Diskussionen zur Netzneutralität verfolgt und bin etwas müde, dass immer noch um den heißen Brei herumgeredet wird, dass immer noch von Klischees statt von echten Problemstellungen gesprochen wird.
So bekam ich mehrmals die Empörung von manchen Provider-Vertretern zu hören, dass das EU-Parlament für Sonderdienste separate Strukturen voraussetzt. Wie soll das denn gehen, fragen die Interessenvertreter. Das ist doch enorme Ressourcenverschwendung! Doch würden sie sich mal in den eigenen Maschinenräumen umhören, würden sie erfahren, dass genau dies das derzeitige Geschäftsmodell vieler Endkundenprovider ist:Ein Teil des Datenstroms auf der letzten Meile wird exklusiv für bestimmte Dienste wie Fernsehen oder eine Telefonverbindung reserviert. Wer hier überrascht tut, hat an einer Debatte nicht wirklich viel Interesse.
Richtig ist: Die geplante EU-Regulierung beschränkt Provider in ihren neuen Geschäftsmodellen enorm. Richtig ist aber auch: Bis heute legen sie diese Geschäftsmodelle nicht auf den Tisch, die eine solche Regulierung verhindern würde. Telemedizin ist es nicht.
Es geht nicht um Quality of Service und Deep packet inspection
Sowohl Gegner als auch Befürworter der Netzneutralität verbreiten eine Legende offensiv: Wenn die Netzneutralität abgeschafft ist, schalten die Provider die (ganz, ganz schlimme) Deep Packet Inspection an, beziehungsweise schaffen sie (ganz unverzichtbare und super-verlässliche) Diensteklassen.
Das ist zwar technisch möglich, aber nicht wirklich Gegenstand der Debatte. Nun — fast nicht. Zum einen: Die jetzigen Modelle wie der Comcast-Netflix-Deal oder die nicht angerechnete Spotify-Flatrate für Telekom-Kunden kommen hervorragend ohne Deep-Packet-Inspection aus. Statt in jedes Datenpaket reinzugucken, werden einfach alle Pakate aus einer bestimmten Quelle zu einer gesonderten Provider-Infrastruktur im Backbone geleitet. Sind die Daten einmal da, müssen sie nicht groß bevorzugt werden.
Zum anderen: Der lukrativste Content zur Zeit — Video On Demand — ist nicht besonders qualitätsfixiert. Dem Videoplayer ist es egal, ob ein paar Datenpakete 500 Millisekunden später ankommen. Voice-over-IP oder Onlinegaming hätten da ihre Probleme, aber nicht-lineare Videos eher nicht. Die Computer, Tablets und Smartphones packen alle Daten in einen Zwischenspeicher und spielen die Daten ab, die schon eingetroffen sind. Hauptsache ist, dass es viele Daten sind und dass die Anlieferung einigermaßen regelmäßig ist.
It’s the economy, stupid.
Als ich vor mehr als fünf Jahren noch von den ersten Next-Generation-Network-Plänen berichtete, waren die Provider noch der Auffassung, dass sie Diensteklassen tatsächlich universell umsetzen könnten. Das hieße: Was im Netz der Telekom mit hoher Priorität abgesendet wird, käme auch bei Comcast oder einem bulgarischen Regionalprovider mit hoher Priorität an. IPv6 hat diese Option schließlich eingebaut.
Problem dabei: Die Provider schaffen es nicht. Das Netz der Netze ist technisch erstaunlich stabil, aber der betriebswirtschaftliche Hintergrund ist es nicht. Alle Provider hängen zusammen und sie müssen sich irgendwie einig werden, wer wen für welche Daten bezahlt.
Das ist nicht immer einfach und oft historisch bedingt. Während Kabelbetreiber hierzulande von TV-Sendern für den Transport kassierten, war es in den USA genau umgekehrt: Kabelbetreiber zahlten Sender für den mehr oder weniger wertvollen Content. Das Internet basiert auf Peering-Agreements, die — wollte man sie heute komplett neu verhandeln — niemals zustande kämen, weil sich die größten Provider niemals einig würden wer wen und dann noch wie viel bezahlen muss. Der Status Quo, das „best effort net“, bleibt deshalb ohne übergreifende Diensteklassen. Statt dessen will jeder Massen-Provider seine Dienste separat vermarkten.
Das Netz ist nicht neutral, so what?
Ein Argument, das nun mit vermeintlicher Empörung vorgebracht wird: Das Internet ist nicht neutral. YouTube ist nur weltweit so gut verfügbar, weil Google Milliarden in die Infrastruktur gesteckt hat. Andere zahlen teure Content Delivery Netzwerke, damit ihre Inhalte nicht als Daumenkino beim Kunden ankommen. Das Netz ist halt nur so neutral wie der Journalismus objektiv, wie Zynismus wirklich ist: Nämlich in bestimmten Grenzen.
Und diese Grenzen verschieben sich nun. Nicht etwa, weil Telekom und Co plötzlich ganz gierig geworden sind. Es ist ein elementarer und eigentlich kaum vermeidbarer Branchenwandel eingetreten. Der reine DSL-Provider wird abgeschafft und durch vertikale Datentransportkonzerne ersetzt. Sprich: All die Transportwege von Daten: Fernsehen, Mobil, DSL, Kabel, Satellit, etc werden zusammengefasst. Und es ist ja auch nur folgerichtig: Warum soll ich für jede Daten-Geschmacksrichtung einen separaten Vertrag abschließen?
Das Problem dabei ist, dass in den bisher getrennten Branchen unterschiedliche Abrechnungsmodelle existieren. Warum soll der Kabelbetreiber nicht ein Paket zusammenschnüren wie er es schon bisher macht? Das Frauen-Serien-Paket in HD für 12 Euro 95 im Monat. Das Männer-Sport-Porno-Action Paket für 14 Euro 95. Nach sechs Monaten das Doppelte. Warum soll das nicht beim Internet erlaubt sein, wo es doch über genau die gleichen Leitungen ins Haus kommt?
Auf der anderen Seite haben die Content-Konzerne sich auch „vertikal“ aufgestellt. Google hat so viele Netze, Netflix hat so viel Traffic, dass es sich für diese Unternehmen lohnt die Mittelsmänner zu umgehen. Facebook kann sogar für den Aufbau von Netzinfrastruktur in der dritten Welt zahlen in der Hoffnung, dass sich dies in börsenrelevanter Geschwindigkeit in Werbeerlösen auszahlt.
Wer bezahlt wen?
Käme es wirklich zum Äußersten und die Provider würden in offene Marktverhandlungen mit den oft geschmähten US-Konzernen treten, sie würden wohl draufzahlen. Statt Geld in die europäische Infrastruktur und die Dividendenkassen zu leiten, könnten Google, Facebook, Apple und Amazon eine Silicon-Valley-Steuer verlangen. Was sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht wollen.
Die vielen, vielen anderen Provider und Content-Anbieter hingegen haben diese Möglichkeiten nicht. Hier kann die Debatte ansetzen: Ist der jetzige Zustand wirklich so innovationsfördernd? Welche Geschäftsmodelle wollen die Provider nun wirklich anbieten? Schaffen sie es, die Peering-Agreements von gestern tatsächlich zu verbessern, so dass der Netzausbau lohnt statt einfach nur abzukassieren?