Die vielen Seiten von Netzneutralität

Zur Zeit ist ja viel Geschrei „für“ oder „gegen“ Netzneutralität. Doch die spannende Frage ist: was ist Netzneutralität überhaupt?

Gerade versuchen die Provider Vodafone und Deutsche Telekom ihre Diensteklassen als ultimative Lösung zur Netzneutralität zu verkaufen — was eindeutig nicht meinem Verständnis des Wortes Netzneutralität entspricht, sondern so ziemlich genau das Gegenteil davon darstellt. Die Idee entspricht mehr dem System „BTX“ und nicht dem weltumspannenden Internet, wie wir es heute kennen. Das konnte sich nur durchsetzen, weil niemand mit Rechenschiebern Bytes und Sendeminuten zählte und nach altbekannten Tarifen abrechnete.

Doch die spannende Frage ist weiter unbeantwortet: Was ist Netzneutralität überhaupt? Es hat was mit „gleichberechtigtem Zugang“ zu tun, aber wie geht es weiter?

Ein drei Meldungen vom Tage:

  • Google verbannt Freehoster co.cc aus seinem Index: Google ist als marktführender Suchdienstleister einer der zentralen Dienstleister der heutigen Internetwelt. Nach welchen Regeln kann sich dieses Unternehmen einfach Teile des Netzes aus seinem Index entfernen, wenn nicht Mal alle davon Malware verteilen?
  • Der neue Bitkom-Chef überlegt virenversuchte Rechner unter Quarantäne zu stellen. Wer eine Virenschleuder betreibt wird vom Netz getrennt. Sinnvoll, oder? Mein Provider Netcologne macht das heute schon. Aber haben wir in den letzten Jahren nicht gehört, dass es für Privatpersonen quasi unmöglich ist, zu Hause die Internetsicherheit einzuhalten? Wie soll es Tante Paschulke gelingen, was nicht Mal Sony schafft? Und wenn Tante Paschulke ihren Rechner nicht anschaltet, erfährt sie nicht Mal, dass ihr IP-gestütztes Telefon nicht mehr funktioniert oder die AAL-Dienste, die das Leben per Internet lebenswerter machen sollen. Soll man Tante Paschulke diskrimieren oder die User, die mit Spam-Mails und Viren zugeschüttet werden?
  • Verizon beendet die unbegrenzten Datentarife. Na und? Es sind ohnehin nur ein Prozent der Kunden, die über 5 Gigabyte verbrauchen. Warum sollen die das Netz verstopfen dürfen? Andererseits: Gerade Mobilfunkanbieter entdecken gerade den Videovertrieb als neuen Einnahmezweig. Wenn die Videostreams im eigenen Mobilfunknetz nicht ins Datenvolumen einfließen, ist das doch nur Kundendienst, oder? Wer wollte Verizon zu anderem zwingen?

Eine konsistente Definition von Netzneutralität würde all diese Punkte betreffen – und Tausende anderer Fälle. Und wie auch immer diese Definition aussehen würde — ein Teil der Antworten, die durch die Netzneutralitäts-Direktive vorgegeben würden, würden uns gar nicht gefallen. Egal, welches „uns“ dabei grade gemeint ist.

Deshalb müssen wir Panzer an Saudi-Arabien verkaufen

Heute morgen habe ich auf WDR2 ein Interview gehört mit Joachim Pfeiffer, wirtschaftspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Er begründete, warum Exporte von Panzern nach Saudi-Arabien nicht nur rechtmäßig, sondern auch vernünftig seien. Das Interview ist hier abrufbar, ich habe hier zwei zentrale Absätze dokumentiert.

Zunächst verwies Pfeiffer auf die außenpolitische Situation, die Duldung des Deals durch Israel, und betonte die Gefahr im Nahen Osten. Er kam schließlich zu dieser conclusio:

Es ist ja nicht so, dass Saudi-Arabien bisher keine Panzer hat und bisher über keine Waffen verfügt. und wir müssen auch einfach mal die Realitäten auf der Welt betrachten. Und deshalb halte ich es für richtig, dass wir uns politisch engagieren. Wenn wir uns schon vor dem Spiel — Mal…jetzt ist ja grade Fußball aktuell — aus dem … selbst vom Platz stellen, dann brauchen wir uns nicht wundern, dass wenn der Anpfiff stattfindet, wir dann nicht mehr mitspielen dürfen.

Doch der Rüstungs-Deal hat auch eine innenpolitische Komponente:

Jetzt nehmen wir einmal andere Argumente neben den politischen. Es gibt außenpolitische, es gibt innenpolitische… da komm ich in der Abwägung zum Ergebnis, dass es vertretbar ist. Es gibt aber auch technologiepolitische Gründe. Wir haben hier in Deutschland eine leistungsfähige Verteidigungsindustrie, die auch in Teilbereichen dort noch an der Weltspitze ist. Die wurde mit Steuergeld finanziert, und es wurden vor allem auch Aufträge an die Bundeswehr dann auch gegeben. Die wird es zukünftig bei dem Umbau, der jetzt ansteht, so nicht mehr geben. Das heißt, die Frage ist: wie wollen wir diese Technologie erhalten. Das heißt: da brauchen wir auf jeden Fall auch Exportmöglichkeiten. [Moderator interveniert, Pfeiffer redet weiter] Sollte diese Technologie weg sein, dann machen wir uns als Deutschland abhängig von anderen Ländern. Das will ich nicht, ich glaube, das wollen auch die Deutschen nicht.

PS: Da fällt mir — wie so oft — eine Stelle aus der Serie „The West Wing“ ein. In der Folge „Enemies Foreign and Domestic“ geht es um einen (Update: nicht wirklich fiktiven) Vorfall in Saudi-Arabien: 17 Mädchen verbrannten weil die Religionspolizei sie nicht aus einer brennenden Schule rettete. Die Pressesprecherin C.J. steigert sich im offiziellen Presse-Briefing zu einem bemerkenswerten Monolog:

„Outraged? I’m barely surprised. This is a country where women aren’t allowed to drive a car. They’re not allowed to be in the company of any man other than a close relative. They’re required to adhere to a dress code that would make a Maryknoll nun look like Malibu Barbie. They beheaded 121 people last year for robbery, rape, and drug trafficking. They have no free press, no elected government, no political parties. And the Royal Family allows the Religious Police to travel in groups of six carrying nightsticks and they freely and publicly beat women. But ‚Brutus is an honorable man.‘ 17 schoolgirls were forced to burn alive because they weren’t wearing the proper clothing. Am I outraged? No. . . . That is Saudi Arabia, our partners in peace.“

Zwei Missverständnisse zur Anonymität

Ich habe grade Mal „Anne Will“ eingeschaltet und erinnere mich lebhaft, warum ich das sonst nicht tue. Gerade beim Thema Anonymität verschanzen sich beide Seiten hinter Scheinargumenten.

Die eine Seite argumentiert, dass im Internet alle Hemmungen fallen und dass durch die Anonymität des Internets der Schmutz nach oben gespült wird, dass der Mob die Unschuldsvermutung ignoriert und sich selbst zum Ankläger und Richter erhebt. Verletzende Zitate finden sich zu Hauf.

Das sind Scheinargumente. Denn die Unschuldsvermutung bindet natürlich in erster Linie Institutionen. Der Bürger selbst kann jeden schuldig halten, den er will und darf dies — in Grenzen — natürlich auch ausdrücken. Das ist Meinungsfreiheit. Dass im Internet so einfach die übelsten Beschimpfungen zu finden sind, liegt zu einem großen Teil an einem einfachen Umstand: Außerhalb des Internets wird nicht immer jede Äußerung mitgeschrieben und ist nicht googlebar. Wenn in Kneipen, im Sportverein auf Kinderspielplätzen diskutiert wird, trägt niemand ein Gesetzbuch unterm Arm. Und wenn Missstände beobachtet werden, darf natürlich nicht alleine der Staatsanwalt Akten lautlos hin- und herschieben, bis der Richter sein Urteil gesprochen hat. Wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt, wenn vor meinem Fenster ein Auto ein anderes rammt, gibt es kein Verbot darüber zu sprechen, was ich gesehen habe.

Die andere Seite erhebt die Anonymität zur wesentlichen Voraussetzung der Kontrolle von unten. Das ist bei Whistlerblowern, die Skandale im eigenen Haus aufdecken, selbstverständlich so. Für einen engagierten Plagiatsjäger, der in keiner direkten Beziehung zu dem vermeintlichen Plagiatoren steht, jedoch eher nicht. Eine Berichterstattung über die Plagiate wäre durch nicht-anonyme Plagiatsjäger nicht eingeschränkt oder verhindert worden. Journalisten lieben es, wenn sie jemanden anrufen können, wenn sie Nachfragen stellen können und etwas erklärt bekommen. Natürlich sind wir Journalisten gerade in solch gehypten Themen lästig, wir rufen an, wir stellen haufenweise Fragen, verstehen etwas falsch, zerren Personen an die Öffentlichkeit, die lieber für sich geblieben wären. (In meinem Eckchen des Journalismus bleibt mir das zum Glück weitgehend erspart.) Aber die Berichterstattung wäre nicht verhindert worden. So hätte ein kundiger Vroniplagger die Behauptungen des Herrn Chatzimarkakis on the fly korrigieren und in Kontext stellen können. Ich persönlich hätte aber auch keine Lust auf die Live-Konfrontation vor Millionenpublikum.

Viel realer sind jedoch andere Probleme, die dafür sprechen, anonym zu bleiben. Wer Geld hat, hat Anwälte — Abmahnungen sind schnell geschrieben und schwer wieder abgewehrt. Chefs und Kollegen haben politische Meinungen und Wikis können offenbaren, wer in der Kernarbeitszeit etwas machte, was mit seinem Haupt-Job nichts zu tun hatte (auch wenn derjenige die Zeit selbstverständlich durch Überstunden mehr als aufholt).

Nachtrag: Der britische „Guardian“ hat soeben auch einen interessanten Artikel bezüglich des Aspekts der medialen Vorverurteilung, oder im Polittalk-Jargon: des Scherbengerichts, des Prangers veröffentlicht. Leserredakteur Chris Elliott beleuchtet die Reaktionen auf die Crowdsourcing-Bemühungen aus den im Juni freigegebenen 13000 E-Mails aus der Gouverneurs-Zeit von Sarah Palin Berichtenswertes zu generieren. Um die Freigabe der E-Mails war ein gewaltiger Hype entstanden, der allerdings nichts zu Tage förderte.

Elliot schreibt:

There is plenty of journalistic digging that goes on that doesn’t reap a reward. […] The journalists involved still believe it was a worthwhile exercise. One said: „The aim of the original FoI [requests] was to get information to provide a portrait of a politician who at the time might have been vice-president or even president, and may yet be one of the contenders for the Republican nomination to take on Barack Obama next year. „

Ganz klar: natürlich müssen Medien solche Quellen durchforsten, wenn sie ihrer Wächterfunktion nachkommen wollen. Aber müssen sie so einen Bohei darum machen? Für Elliot ist das ein Teil des Medienwandels:

Fair enough, but the „ball-by-ball“ nature of our coverage, a growing and often successful method of real-time coverage on the web, meant we sounded way more excited about the emails than their substance warranted. Aspects of Sarah Palin’s life such as her religious zeal – especially when related to discussion of her son who has Down’s syndrome – and her language misfired for many readers.

Web techniques such as live blogging and crowdsourcing expose the process of a story in a way that has hitherto been largely hidden to readers, which is a good thing. But in future we should be much warier of the glee quota until we know what we have got.

Fassen wir die Lektion in seinem Satz zusammen: Wenn Recherche in der Öffentlichkeit stattfindet, dann verändert sie die öffentliche Wahrnehmung.