Fakten zählen. Emotionen zählen. Und die Wahrheit?

Mike Daisey wurde mit standing ovations bei seiner letzten Vorstellung in New York verabschiedet. Der 40jährige hat einen ungewöhnlichen Job: Er ist Erzähler. Und in den letzten Jahren sorgte er mit seinem kraftvollen Monolog „The Agony and the Ecstasy of Steve Jobs“ für Aufsehen, in dem er unter anderem seine Reise zu den Werken im chinesischen Shenzen schildert, in denen iPhones und iPads hergestellt werden. Vor Ort wird er Zeuge von katastrophalen Arbeitsbedingungen: 14jährige Mädchen, die zu den dort üblichen 12-Stunden-Schichten antreten, Untergrund-Gewerkschafter, denen im vorgeblichen Arbeiterstaat China Gefängnis droht, verkrüppelte Menschen, die allein gelassen werden.

Doch Mike Daisey ist ein Lügner. Er war zwar in Shenzen, hat dort recherchiert, wurde aber eben nicht Zeuge der Vorgänge, die er beschreibt. Sein Monolog ist ein Potpourri aus Berichten, was man eben aus China so hört. Daisey nahm Stücke aus Recherchen echter Journalisten, ließ sich andere Geschichten selbst erzählen und auf der Bühne fügte er das zu einem Gesamtwerk zusammen, das eindrucksvoll, kraftvoll, erschütternd ist. Zwei Jahre tourt Daisey schon mit seinem Programm durch die USA und füllt die Säle. Er konfrontiert die Menschen mit der anderen Seite ihres Konsums.

Dass auf einer Bühne nicht die reine faktische Wahrheit gesprochen wird, ist nichts Ungewöhnliches. Doch die Produzenten von „This American Life“ kamen auf Daisey zu und fragten ihn, ob er nicht seinen Monolog für eine Sendung zur Verfügung stelle. Die Sendung, die ich sehr schätze, ist ein Format im Verbund des „National Public Radio“, das sich mit journalistischen und auch fiktiven Formaten einer Vielzahl von Themen nähert – vom Leben auf dem Schulhof bis zum Leben in Guantanamo. Unaufgeregt, besinnlich, denkanstoßend.

Mike Daisey erklärte sich einverstanden. Mehr noch: Er versicherte den Verantwortlichen der Redaktion, dass seine Erzählungen den Fakten entsprechen. Er schildere auf der Bühne die Wahrheit. Und beim aufwändigen fact-checking-Prozess arbeitete er mit. Doch an entscheidenden Stellen täuschte er die Redaktion. So log er den Redakteuren vor, dass er seine Übersetzerin aus China nicht mehr kontaktieren könne. Angeblich wollte er sie nicht behelligen, erzählt er später. Doch als ein Journalist sie tatsächlich ausfindig macht, erzählt sie eine ganz andere Geschichte. Ja, Mike Daisey sei in China gewesen und habe mit Arbeitern gesprochen. Doch die 14jährigen, die Verkrüppelten, Untergrundgewerkschafter im Starbucks – die hat sie nicht gesehen. Solche Leute existieren zweifellos im großen China, doch der Geschichtenerzähler hat sie nicht getroffen, nicht mit ihnen gesprochen.

Es ist ein Albtraum für jeden Journalisten. Da hat man eine Geschichte, die die Menschen tatsächlich zum Umdenken bewegen kann. Eine Quelle, der man vertraut. Und dann erweist sich alles als große Lüge. Redaktionsleiter Ira Glass zog die Notbremse und zog die Story zurück. Und widmete eine ganze Radiostunde diesem Versagen. Nach einem mea culpa kommt Glass jedoch schnell zu einer Konfrontation mit Daisey, bei der er alles andere als gut wegkommt. Dem großen Erzähler fehlen die Worte. Und als sie kommen, klingen sie nach billigen Ausflüchten. Ja, seine Arbeit mit „This American Life“ sei ein Fehler gewesen, den er aufrichtig bedauere. Nein, er habe tatsächlich Kinder gesehen – wahrscheinlich als die Übersetzerin grade wegsah. Nein, er stehe weiterhin zu seiner Arbeit, eine Arbeit des Theaters. Und zur Wahrheit. Dass er die Redakteure angelogen hat, kommt ihm nicht über die Lippen.

Nun hat Daisey die kontroversesten Stellen in seinem Vortrag zusammengestrichen und hofft, weiterhin beim Publikum anzukommen. Sein theatralisches Genie steht außer Frage. Doch wollen die Menschen bei einem so realistischen Thema sich auf einen fiktiven Holzweg führen lassen? Reicht das Dramatische, um einen Denkanstoß zu geben? Durch den Skandal jedenfalls haben alle, die ihm sowieso nicht glauben wollten, die sich mit dem Thema nicht beschäftigen wollten, eine ideale Ausrede. Arbeitsbedingungen in China? Alles Propaganda der Apple-Hasser.

Will das Publikum belogen werden? Ist die komplexe Wahrheit zu viel für uns? Als Journalist muss ich mich täglich damit herumschlagen, wie weit man die „Wahrheit“ herunterkochen kann. Wenn man immer alle Seiten und Standpunkte wiedergibt, entsteht allzu leicht unverständliches Wischi-waschi, das den Leser ratlos zurücklässt. Wir müssen auswählen, was wir transportieren. Und auf diesem Wege konstruieren wir ein Zerrbild, eine andere Realität. Ist das so viel anders als das, was Mike Daisey tat?

Ja. Denn Fakten zählen. Wenn ich etwas aufschreibe, verlassen sich die Redaktionen darauf, dass das stimmt, was ich schreibe. Dass ich nicht blindlings einer Quelle vertraue. Und die Leser haben auch einen Anspruch darauf. Doch Zeit zum Überprüfen ist oft knapp. Eine Folge ist, dass sich Journalisten tendentiell den einfachen Geschichten widmen. Oder dass wir die Verantwortung abwälzen. Phrasen wie „wie die Calwer Kreisnachrichten berichten“ sind ein einfacher Code für: „Dafür lege ich meine Hand nicht ins Feuer“. Und wenn wir einen „Experten“ zitieren, dann haben wir unsere Schuldigkeit getan. Wir können schließlich nicht alles wissen.

Und die Wahrheit? Also: die Wahrheit? Kann sie nur aus Fakten zusammengesetzt werden? Nein. Aber dafür gibt es Lösungen. Es gibt Kommentare, Reportagen, Essays, die allesamt Ebenen vermitteln, die nicht nur im staubtrockenen Faktischen angesiedelt sind. Und es gibt Comedy. So habe ich Ende vergangener Woche dieses tolle Stück in der „Daily Show with Jon Stewart“ gesehen, das ebenfalls eine Wahrheit transportiert. Auf polemische Weise. Mit provokanten Schnitten, die in einem journalistischen Format verboten wären. Mit Komik.

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Erkläre Dir das, wie Du willst

3Sat widmete der „Jagd auf Wikileaks“ am Freitagabend eine Sondersendung. Moderatorin Tina Mendelsohn eröffnete die Sendung so:

Seit dem Wikileaks-Skandal ist es gar nicht mehr so einfach — meine Damen und Herren — kein Verschwörungstheoretiker zu sein. Ich begrüße Sie.

Vor ein paar Tagen bekam eine Freundin folgende E-Mail eines sehr reichen Amerikaners über die Verfolgung Julian Assanges, des Gründers von Wikileak. Der amerikanische Freund, der schrieb:

„Ein paar Tage bevor Julian verhaftet wurde, wollte ich Geld in seine Verteidigungskasse überweisen. Das heißt, ich habe das versucht. Kurz danach hatte ich keinen Zugang mehr zu allen meinen Konten. Erkläre Dir das, wie Du willst.

In Australien ist Julian Assange ein Held. Heute gab es dort große Demonstrationen in Sidney. Vor drei Tagen wurde Julian Assange in London verhaftet und seit gestern wird zurückgeschossen.

Liebe Frau Mendelsohn,

für mich ist es gerade nach den Wikileaks-Skandalen keinerlei Problem nicht zum Verschwörungstheoretiker zu werden. Grund dafür sind Leute wie Sie, die sehr schön demonstrieren, wie sie aus Unwissenheit, Skandalsucht oder politischer Anschauung selbst relativ einfache Sachverhalte nicht mehr bewältigen und trotzdem Sendeminuten und Zeitungsseiten mit Halb- und Unwahrheiten füllen dürfen.

Der amerikanische Freund, der laut Screenshot sogar ein Milliardär ist, ist das perfekte Beispiel: Welche Geschichte wollen Sie uns da erzählen? Die US-Regierung lässt alle Konten sperren, von denen Geld für Wikileaks gespendet wurde? Ach nein, Sie sagen es ja gerade nicht – Sie liefern lediglich eine einseite Auswahl von Nicht-Fakten, die unweigerlich zu der oben genannten Verschwörungstheorie führt. Erkläre Dir das, wie Du willst.

Wenn man tatsächlich den gesunden Menschenverstand oder ein wenig journalistische Neugier einschalten würde, wäre das vermutlich sehr schnell erklärt. Ich nehme an, US-Milliardäre lassen sich nicht einfach kommentarlos alle Konten sperren und verlangen sehr lautstark Aufklärung über eine solche Sperre. Gleichzeitig haben in den letzten Tagen Tausende an Wikileaks gespendet — deren Konten müssten ja auch gesperrt werden, wenn denn der insinuierte Zusammenhang bestünde.

Sprich: wenn Sie eine Erklärung suchen wollten, würde Sie wahrscheinlich relativ schnell eine bekommen. Sie haben sich dafür entschieden keine Erklärung zu suchen. Stattdessen servieren sie ihrem Publikum eine brühwarme Verschwörungstheorie und entschuldigen sich damit, dass es anders ja nicht so einfach wäre. Gleichzeitig decken Sie in einer Jubelarie — in der Sie von Tausenden Wikileaks-Servern und einer riesigen Demonstration in Sidney fabulieren — jeden Unterschied zwischen Wikileaks und Anonymous zu. Die „Bild“ macht genau das Gleiche, wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Ein ähnlicher faktenfreier Beitrag bei BoingBoing hat mir gestern schon die Kinnlade herunterklappen lassen. Dort stand zu lesen, der CIA hätte einen Wikileaks-Mirror angelegt, um die IP-Adressen derer abzuschöpfen, die Wikileaks-Dokumente lesen. Eine wirklich widersinnige Behauptung – bekäme der CIA durch einen Wikileaks-Mirror doch viel interessantere Datn in die Hand. Doch auch das hat sich erledigt, da die Ursprungs-Meldung ein offenkundiges Missverständnis innerhalb eines Forenthreads war. In diesem Fall hat es glücklicherweise jemand anderes übernommen, die Fehler aufzuzählen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn es sich tatsächlich jeder heute nur „einfach“ machen will und deshalb ungeprüft Verschwörungstheorien in die Welt hinauspustet — dann ist der Journalismus kaum zu retten. Nennen Sie mich naiv, Frau Mendelsohn, aber von 3Sat hätte ich mehr erwartet.

Nachtrag: Jetzt ist auch die „Operation Leakspin“ online und begrüßt uns gleich am Anfang mit dieser These:

Reports have to be posted, reviewed and if necessary corrected on the Quality Control System. This will lead to an enormous advantage over conventional journalism.

Das ist falsch. Denn konventioneller Journalismus umfasst nämlich genau das: Gegenlesen und Qualitätskontrolle. Es funktioniert zwar mal weniger gut, mal überhaupt nicht (siehe oben) – trotzdem sind diese Prinzipien im konventionellen Journalismus fest institutionalisiert. Wenn die Leakspin-Macher nicht mal dies wissen, wird der eigene Qualitätsanspruch wie bei den vielen, vielen Vorläufern wohl kaum erfüllt werden.

Kim Tim Jim Vestor

Ich habe mich ja vor einiger Zeit über die Gerüchterstattung rund um Kim Schmitz aufgeregt. Doch offenbar gibt es auch noch einen anderen Journalismus: In der April-Ausgabe des Investigate Magazine findet sich ein mehrseitiger Bericht über Kim Schmitz, der leider keine definitiven Antworten gibt, aber immerhin interessante Anhaltspunkte bietet.

So haben sind Reporter auf eine merkwürdige Figur namens „Tim Vestor“ gestoßen, die ein Alter Ego von Kim Schmitz sein könnte – oder vielleicht auch nicht.

We’ve tracked this „Kim Tim Jim Vestor“ through his directorships on seven compa­nies in Hong Kong, including the ones the German media have been unable to prove he’s linked to. Investigates extensive enqui­ries in Asia show Kim/Tim/Jim Vestor is the director of:

  • Megamedia Limited
  • Megapix Limited
  • Megaupload Limited
  • Megavideo Limited
  • Ni Limited
  • Vestor Limited

A Kim Tim Jim Vestoer (Vestor mis­spelled) is listed in Hong Kong Companies Office records as director of another com­pany, Megarotic Limited, specialising in pom. There is no updated residential address in the Hong Kong registry — it remains the modest shed at unit C6,6 Paljaspaa, Turku, Finland.
As we said, media reports have suggested Schmitz resides on the „top floor of the Grand Hyatt Hotel in Hong Kong with his wife and child“, but when Investigate called the hotel they had no record of cither a Kim Schmitz or a „Kim Vestor* or a „Tim Vestor“.

Perhaps he really docs live on the top floor of a five star hotel. Perhaps he really does have the kind of cash needed to buy a <35 million mansion in New Zealand. But based on a track record of lying, embezzle­ment, fraud and hacking, perhaps there's not a snowball's chance in hell he will really end up buying the Coatesville mansion at all.

Ein Indiz für die These haben die Reporter freilich übersehen: das Pseudonym „Tim Vestor“ ist dorky – haben wir im Deutschen ein Wort dafür? Es würde einem 17jährigen richtig cool vorkommen, von außen betrachtet ist es jedoch einfach peinlich, eitel, doof. Also ganz Kim Schmitz.

Entschleunigte Fakten

So ganz genau habe ich nicht verstanden, was das Netzwerk Rechtschreibung netzwerk recherche da wieder fordert:

Einen "Fakten-TÜV" in allen Medien hat die Journalisten-Vereinigung netzwerk recherche (nr) zum Auftakt ihrer Fachkonferenz "Fact-Checking – Fakten finden, Fehler vermeiden" heute in Hamburg gefordert: "Ein Fakten-TÜV durch eigenständige Dokumentations- und Recherche-Spezialisten in allen Medien wäre ein Quantensprung für die Steigerung der journalistischen Qualität", sagte der Vorsitzende von netzwerk recherche, Thomas Leif, bei der Eröffnung der zweitägigen internationalen Fachkonferenz.

Ähm, ja… – Fakten zu prüfen gehört eigentlich zu den Grundaufgaben eines Redakteurs. Dieses Faktenchecken wieder mehr zu institutionalisieren wäre eine schöne Idee. Aber wer zahlt eigentlich für die zusätzlichen Dokumentare und Faktenchecker, in einer Zeit, in der Verlage ihre Redaktionen bis aufs Letzte aushöhlen? Und: sind die Leute wirklich an den entschleunigten Nachrichten von gestern interessiert, wenn die ungeTÜVte Version doch viel schneller und sexier ist? Sprich: ist das Ganze nur wieder eine wohlfeile Forderung ohne jede Aussicht auf Verwirklichung?

Wie wäre es mit einem Kompromiss-Vorschlag? Nehmen wir uns einmal mehr ein Beispiel bei der freien Wirtschaft – Outsourcing ist angesagt, Synergien sind zu nutzen! Der Fakten-TÜV wird zur Rating-Agentur – das wirkte ja schon beim Finanzmarkt wahre Wunder! Statt eine illusorische „systematische Überprüfung aller Medieninhalte“ anzugehen, kontrolliert die Stiftung Faktentest stichprobenartig die Verlässlichkeit der Medien. Die klügsten Köpfe des Journalismus werden auf die Richterbank des Bundesverfaktungsgerichts gerufen.

Hat es geregnet, obwohl Sonnenschein vorhergesagt war? Punktabzug! Wieder Mal ohne Sinn und Verstand von der englischen Yellow-Press abgeschrieben? Punktabzug! Ist Herr Kachelmann nachher gar unschuldig? Punktabzüge nach allen Seiten.

Am Schluss könnte gelingen, was bei Kinder-Lebensmitteln so umstritten war: eine Ampelkennzeichnung für faktenorientierte und weniger faktenorientierte Medien. Triple-C für „Bild“, eine B-Note für die „Rhein-Zeitung“ – und eine A-Note, ja, für wen eigentlich? Einen Recherchebericht musste ich schon Jahre nicht mehr bei einer Redaktion einreichen.

Recherche ist immer Verlierer des Tages

Viel wird grade darüber geschimpft, dass die BILD Björn Böhning zum Verlierer des Tages gemacht hat, weil er sich gegen das geplante Netzsperren-Gesetz ausgesprochen hat. Viele sehen dahinter eine skandalöse Agenda – ich glaube hingegen, dass die meisten Gewinner-Verlierer-Meldungen ausgewürfelt werden. Irgendwer schreibt schnell etwas zusammen ohne groß darüber nachzudenken.

Wie gut es um den Faktengehalt der Rubrik steht, zeigt sich wenn man nur einen Zentimeter nach links wandert:

090612-gewinner

Was? Sat1 hat eine Nachrichtensendung? Und die soll die Tagesschau geschlagen haben – wenn auch in einer willkürlich festgelegten Zielgruppe? Das wäre doch eine kurze Nachfrage wert. Und in der Tat – BILD stellt heute richtig:

130612-gewinner

Ist damit alles gut? Nun – nicht wirklich: In der ersten Meldung hat BILD die untersuchte Altersgruppe um fünf Jahre verkürzt, in der Korrektur wurde die Zuschauerdifferenz falsch abgeschrieben. Für 14 Zeilen Text, die als Aushängeschild des Mediums gelten, ist das eine erstaunliche Quote. Oder auch wieder nicht.

Schwachstark

Ist meinungsstark eigentlich ein Synonym für faktenschwach?

Ich mag ja deutliche Meinungen. Aber in letzter Zeit finde ich zu viele Leute, die zu jedem Thema lautstark ihre Meinung verkünden und zu wenige, die von diesen Themen tatsächlich Ahnung haben.

Journalisten lügen. Medienwissenschaftler erst recht

Die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen hat eine Studie in Auftrag gegeben. Ergebnis: Journalisten verlassen sich zu sehr auf Google und Wikipedia. Eine Zusammenfassung gibt’s hier.

Meine Lieblingsstelle:

Einige Journalisten behaupteten in den Leitfadeninterviews unserer Beobachtung, dass sie Wikipedia-Informationen immer noch einmal gegenprüfen würden. Nur stellt sich hier die Frage, mit welchem verlässlicheren Konkurrenzangebot sie diese Informationen verifizieren wollen, und, falls es dieses tatsächlich gibt, warum sie es nicht bereits zur Erstermittlung der Information genutzt haben. Hier scheint es sich mehr um eine journalistische Schutzbehauptung als um einen wirksamen Schutzmechanismus zu handeln.

Fassen wir das mal zusammen.

Erstens: Journalisten behaupten, sie würden nachrecherchieren.
Zweitens: Die Studienautoren recherchieren das nicht nach, sondern stellen sich eine Frage, die sie auch gleich selbst beantworten: Schutzbehauptung. Lüge!

Auch schön:

Die Journalisten sollten offen die fünf wichtigsten Internetangebote für ihre Arbeit angeben.
Drei Viertel der Journalisten gaben Google an, 53,4 Prozent Spiegel Online und 37,4 Prozent Wikipedia. Mit großem Abstand folgen sueddeutsche.de (9,8 Prozent), tagesschau.de (9,5 Prozent), bild.de (9,2 Prozent), Yahoo (7,2 Prozent), und welt.de (5,5 Prozent). Webangebote redaktioneller Medien haben somit – neben den Suchmaschinen Google und Yahoo sowie der Online-Enzyklopädie Wikipedia – die größte Bedeutung für Journalisten bei der Online-Nutzung. Mit anderen Worten: Unter den ersten zehn Seiten, die von Journalisten als am häufigsten genutzte Internetangebote angegeben werden, befindet sich keine einzige Primärquelle wie z.B. die Website eines Ministeriums, einer Partei, einer internationalen Organisation oder eines Unternehmens.

Hmmm. Oh Wunder, die Metaquellen werden häufiger genutzt als einzelne Primärquellen. Welches Ministerium könnte denn Journalisten so hilfreich sein wie eine Suchmaschine, die einen Index von einigen Millionen Primärquellen hat. Höchstens das Ministerium für Wahrheit.

(via)

PS:

Nur weil ein Journalist bloggt, ist das noch lange kein Journalismus.

Stimmt.

Kuckucks-Statistik

Kuckuckskinder sind ein hochaktuelles Thema.

Jedes fünfte bis zehnte Neugeborene in Deutschland soll ein Kuckuckskind sein, besagen Schätzungen, das wären 25.000 bis 40.000 jedes Jahr.

Wow, das ist viel.

Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Eine in der „Ärztezeitung“ 2005 veröffentlichte britische Studie hat eine Kuckuckskinder-Rate von 3,7 Prozent in Europa ausgemacht.

Oder in anderen Worten: jedes siebenundzwanzigste Kind.

Der Interview-Skandal und die Konsequenzen

Das Online-Medien-Magazin DWDL hat eine sensationelle Exklusiv-Meldung: In zwei ganz unterschiedlichen Medien erschien doch tatsächlich das gleiche Interview mit Joaquin Phoenix. Dieses schockierende Rechercheergebnis bleibt nicht ohne Konsequenzen:

Bei zwei fast identischen Interviews in der aktuellen „OK!“ aus der Verlagsgruppe Klambt sowie dem monatlichen Kulturmagazin „U_mag“ aus dem Hamburger Bunkverlag war die Frage unumgänglich: Wie konnte es dazu kommen? […] Und es klärt sich, wie es zu der Panne kam: Offenbar hatte niemand bei der „OK!“ die Nachfrage gestellt, ob das Interview exklusiv zu bekommen sei. Zwar bewirbt die „OK!“ das Interview nicht als exklusiv“

Hmm. Ein nicht als exklusiv gekennzeichnetes Interview war nicht exklusiv. Der Autor wurde ordnungsgemäß bezahlt, der Leser wurde nicht getäuscht. Also doch kein Skandal? Doch, meint DWD. Denn:

doch den Anspruch des neuen Wochentitels („Das Exklusivmagazin der Stars“) mit versprochenen Exklusivstorys dank des weltweiten „OK!“-Netzwerks wird es nicht gerecht.

Hmm – der hirnlose Werbeclaim eines Promi-Magazins zum Kampfpreis von einem Euro ist nicht hundertprozentig befolgt worden? Ruft den Presserat. Besser noch: die Dorfältesten!

Vor einer Selbstblamage kann sich DWDL nur retten, da die OK-Redaktion ein Einsehen hatte und die erschütternde DWDL-Recherche mit den angemessenen Konsequenzen belohnt. Keine personellen Konsequenzen freilich, sondern:

So bleibt die nicht sehr vorteilhafte Interview-Panne beim neuen Wochentitel des Klambt Verlag hängen. „OK!“-Chefredakteur Klaus Dahm zieht die notwendigen Konsequenzen aus der Situation: „Wir werden uns künftig schriftlich bestätigen lassen, dass ein Interview im ‚Exklusivmagazin der Stars‘ auch exklusiv ist“, sagt Dahm am Freitag gegenüber DWDL.de

Oder sie werden den hirnlosen Claim unter den Tisch fallen lassen und darauf vertrauen, dass Star-Interviews sowieso inhaltsleeres Gewäsch sind, das durchaus 15 Mal durch die internationale Yellow Press gewalzt werden kann.

BTW: Für Medienseiten-Leser: Die DWDL-Berichterstattung zum Thema ist eigentlich eine Parodie darauf, dass die Erstausgabe von Ringiers Prestige-Titel Cicero ein Castro-Portrait enthielt, das mehr als ein Jahr alt war. Aber wer liest schon Medienseiten und merkt sich sowas über vier Jahre?

Berufskrankheit: mangelnde Recherche

Medienwissenschaftler Michaerl Haller findet Medienberichterstattung zu Heiligendamm nicht besonders schlecht – aber nur weil er den deutschen Journalisten eh nicht viel zutraut. So kommt es in diesem Interview rüber:

Der erwähnte vergleichsweise prominente Redner Walden Bello – ein Soziologe von den Philippinen – wurde nicht nur falsch zitiert, er wurde in einigen Printmedien auch fälschlich als Engländer oder als Autonomer bezeichnet …
… ein Hinweis, wie schlampig manche Journalisten arbeiten.

Wird derart mangelhaft recherchiert, weil die Redaktionen personell ausgedünnt sind?
Wichtiger ist ein anderer Umstand: Journalisten neigen stark zur Vorurteilsbestätigung. Man sucht nach Belegen, um seine Thesen zu bestätigen und wird allen anderen Dingen gegenüber nachlässig. So sind sehr viele solcher Fakten- oder Zuordnungsfehler passiert. Das kommt im deutschen Journalismus häufiger vor, hierzulande neigt man zu schlechter Recherche.

[…]

Leidet die journalistische Sorgfalt bei solchen Ereignissen unter dem Wunsch, möglichst schnell berichten zu wollen?
Das wäre eine Entschuldigung, über die man reden könnte. Die Sorgfalt leidet eher unter dem Lemming-Effekt, dieses „Ich schreibe auch so wie die anderen“. Das ist gerade in Deutschland sehr ausgeprägt. Irgendjemand wirft eine These auf, die dann als Tatsache behandelt, über die schnell im Indikativ geschrieben wird. Ohne, dass irgendjemand genauer prüft. So eine Meldung kann sich über Wochen halten, bis entweder jemand mit korrekten Daten aufwartet oder eines der Leitmedien richtig recherchiert. Früher wäre das die Aufgabe des Spiegel gewesen, heute fällt das eher der Süddeutschen zu.

Wäre es im Interesse der Glaubwürdigkeit der Medien, wenn solche Fehler schneller und an prominenten Stellen im Blatt eingeräumt würden?

Zweifellos. Und noch wichtiger wäre, dass man sich der journalistischen Sorgfaltspflicht vergewisserte und einige Fehler eben nicht machte.

Tja… und ein paar Zeilen später wird aus dem bildblog.de das bild-blog.de. So schnell kann Hallers These also bestätigt werden.

PS: Vier Tage nach meinem Hinweis per Email wurde der Text korrigiert.