Citation needed

Die erste Woche Trump war in einem Aspekt besonders erfolgreich: Er hat das Niveau der Debatte gesenkt. Habe ich früher vielleicht einmal pro Woche einen Hoax aus meinen Timelines getilgt, musste ich es in der vergangenen Woche gleich mehrfach täglich tun. Wurde das Visa Waiver-Programm für Deutsche aufgehoben? Nein. Hat Mike Pence behauptet, Frauen würden sich vergewaltigen lassen, wenn man ihnen dann Abtreibungen gewährt? Nein. Hat Trump in einem offiziellen Foto seine Hände vergrößern lassen? Wohl nicht, es spricht nichts dafür. Menschen die ich schätze, haben all das in sozialen Netzwerken verbreitet – und noch viel mehr.

Die meisten meiner Leser kennen wahrscheinlich den XKCD-Comic von dem „Wikipedian Protester“, der dem mächtigen Mann auf der fahnenstrotzenden Bühne ein simples Schild entgegenhält: [Citation needed]. Diese Warnung wurde in Wikipedia-Artikeln angebracht, wenn Behauptungen nicht belegt waren und dringend eine glaubwürdige, überprüfbare Quelle brauchten. Wurde die nicht in angemessener Zeit nachgeliefert, wurden die entsprechenden Abschnitte aus dem Wikipedia-Artikel entfernt. Die utopische Vorstellung, man könnte an die hohe Politik ähnliche Ansprüche stellen, ist mir höchst sympathisch.

SEMI-PROTECT THE CONSTITUTION

Es ist wichtig, den Mächtigen dieses Schild entgegenzuhalten. Wenn Donald Trump erst behauptet von einem — überhaupt nicht wahlberechtigten — Profi-Golfer von Wahlbetrug erfahren zu haben und sich anschließend einen Verschwörungstheoretiker als Quelle aussucht, dann müssen Journalisten festhalten, dass dies Lügen sind. Und sie müssen die Abgeordneten verantwortlich machen, die über die Gesetze abstimmen. Und die Leute, die für sie stimmen.

Das mit der Verantwortung ist aber keine Einbahnstraße. Wir dürfen uns nicht ausschließlich darauf verlassen, dass Snopes, die Washington Post oder Correctiv die Wahrheit schon zu Tage fördern wird. Denn in einem Umfeld, in dem Bullshit dominiert, ist es einfacher, weiteren Bullshit anzuhäufen. Trump mag keine Fakten auf seiner Seite haben. Die Unterstützung der meisten seiner Wähler ist ihm für Maßnahmen wie dem nun vollzogenen Einreiseverbot sicher. Zwar liefert der Präsident seinen Wählern keine unmittelbare Verbesserungen ihres Lebens, er liefert ihnen aber etwas fast Gleichwertiges: Die Leute, die systematisch als Feindbild aufgebaut wurden, regen sich furchtbar auf. Wenn „die Medien“ Trump beschimpfen, muss der ja irgendetwas richtig machen. Wenn Clinton gegen ihn ist, muss er ja etwas gegen die Korruption in Washington tun.

But she is Madonna!

Fakten zu delegitimisieren ist relativ einfach. Millionen Menschen beteiligen sich am Women’s March? Eine dumme Rede von Madonna reicht für viele vermeintlich Konservative aus, um dieses Ereignis als irrelevant, gar als Bestätigung von Trumps Politik zu betrachten. Zeigt man ihnen unwiderstreitbar, dass eine ihrer Überzeugungen falsch ist, zucken sie mit den Achseln und verweisen auf zehn andere Fake-Stories, die die „liberals“ erfunden haben. Ab einem gewissen Punkt kann man diese Leute nicht mehr erreichen. Aber die Leute, die noch nicht so abgestumpft sind, kann man nicht erreichen, wenn man mit schlechtem Beispiel vorangeht.

Statt nur von den Mächtigen Quellen und Glaubwürdigkeit zu verlangen, müssen wir uns auch mehr auf unsere eigene Glaubwürdigkeit Gedanken machen. Gerade das mediale Stille-Post-Spiel kostet unendlich viele Ressourcen und führt die Debatte immer wieder auf Abwege. Gerade bei Journalisten sehe ich immer mehr die Unart, dass Textausschnitte getwittert werden, die irgendein skandalöses Zitat oder eine Schlussfolgerung enthalten – der Kontext oder die Quelle fehlen jedoch. Zwar mag das Zitat am Tag des Tweets noch einfach auffindbar sein, verschwindet es mit immer größerer Wahrscheinlichkeit schon bald hinter einer Paywall. Die GIF-Sucht hat auch andere Folgen. Mehrfach habe ich in den vergangenen Tagen gesehen, dass jemand einen falschen Tweet korrigiert und das falsche Original sogar gelöscht hat – doch jemand anders hatte das GIF mit der Falschbehauptung schon kopiert und unter eigenem Namen weiter verbreitet.

Stille Post mit Photoshop

Unsere Erinnerung macht Nichtigkeiten groß. In einem Jahr werden sich noch viele Leute an die Geschichte erinnern, wie Trump seine Hände vergrößern ließ — sie ist einfach zu sexy. Gerade dieses Beispiel zeigt auch, wie wichtig Quellenkritik geworden ist. Mit viel Energie hatten Trump-Gegner Fotos verglichen und kleine sogar Animationen daraus gebaut, um die empörende und absolut sinnlose Manipulation zu beweisen. Die Washington Post ist der Sache nachgegangen, und hat festgestellt dass das Bild, das auf Twitter so viel Verbreitung fand, gar nicht aus dem Weißen Haus selbst stammte. Wer die Quelle mit Verstand und Hintergrundwissen betrachtete, musste das bemerken. Wer nur retweetet, sieht hingegen nur die Story, die so sexy erscheint.

Lange Rede, kurzer Sinn:

Retweetet nicht alles, was Euch grade am Empörendsten vorkommt. In den meisten Fällen reicht eine Minute, um einen Gegenbeleg zu finden.

Wenn ihr Zitate als Grafik teilt, gebt bitte auch eine Quelle an. Retweetet keine Zitate ohne Quelle.

Wenn ihr einen Fehler macht — und das ist in dem Klima nur allzu verständlich — dann korrigiert den transparent. Es reicht nicht aus, einen Tweet oder ein Posting hinterherzuschicken. Löscht Eure Falschbehauptungen unmissverständlich. Und informiert Eure Quellen. Wenn die darauf bestehen ihren Irrtum online zu lassen, sind sie es nicht wert, dass man sie weiter anhört.

Wie sich die Wikipedia gegen Zensur wehrt

Es ist mal wieder soweit: Ein Gericht hat eine Passage in einem Wikipedia-Artikel als unzulässig erachtet. Das kommt öfter mal vor. Offiziell will sich die Wikimedia Foundation nur an US-Recht halten, das sie von Haftung weitgehend freistellt, wenn sie nicht offiziell und überzeugend über einen Fehler informiert wurde.

Diesmal geht es um ein griechisches Gericht. Ein griechischer Politiker sah sich durch einen Wikipedia-Artikel unzulässig dargestellt — insbesondere ging es wohl um eine Passage, in der ihn sein eigener Schwiegervater mit herabsetzenden Äußerungen belegte. Der Wikipedianer, der die entsprechende Passage im Artikel eingetragen hatte, sah sich hingegen im Recht: Schließlich war das Zitat von mehreren Medien veröffentlicht worden, auf die er sich in dem Artikel bezogen hatte. Und der Politiker hatte diese Medien nicht verklagt.

Der Politiker hat heute den ersten juristischen Kampf gewonnen und eine vorläufige Verfügung erwirkt. Und er hat gleich mehrfach verloren: Denn nicht nur haben sich viele andere Wikipedianer mit dem betreffenden Autoren solidarisiert, der Artikel steht auch weiterhin unverändert online. Zwar hatte der Autor wie verlangt die Passage entfernt, andere stellten den Artikel wieder in der ursprünglichen Fassung her. Dank des Streisand-Effektes wissen nun viel mehr Leute, was der Vater des Politikers sagte. Der verklagte Autor hat allerdings auch verloren: Für seine gerichtlich aufgetragenen Löschungen wurde er vorerst gesperrt.

Momentan stehen die Zeichen auf Konfrontation. In der deutschen Wikipedia bemüht man sich eher um Kompromisse und den Schutz der Persönlichkeitsrechte — nicht zuletzt wegen zahlreicher vorangegangener Klagen. Wenn sich Wikipedianer aber als Ziel einer nicht gerechtfertigten Zensur sehen, schaltet die Community kollektiv auf stur. Ich schätze, heute abend wird der entsprechende Artikel in diversen anderen Sprachen verfügbar sein. Für den klagenden Politiker bleibt der Rückzug oder ein erneuter Versuch gerichtlich vorzugehen — diesmal gegen die Wikimedia Foundation. Hier einen Sieg zu erringen wird schwerer, da Wikimedia gute Anwälte bezahlen kann.

Update: Mittlerweile hat sich die Wikimedia Foundation hinter den Nutzer „Diu“ gestellt:

Mr. Katsanevas has ignored these facts and is now using the legal system against those who do not share his financial means and influence. Diu faces serious monetary and criminal penalties as a result of Mr. Katsanevas’s lawsuit. We have offered — and Diu has accepted — assistance through our Legal Fees Assistance Program. Through this program, Diu has obtained independent legal representation with the well-known Lambadarios law firm, who we thank for helping Diu during this difficult time.

Der Nutzeraccount bleibt weiter gesperrt.

Wikipedia und Zensur: Don’t ask, don’t tell

Im Oktober berichtete ich über die Zusammenarbeit der Wikimedia Foundation mit einem saudiarabischen Mobilfunkprovider, der einerseits kostenfreien Zugang zu Wikipedia-Inhalten bietet, andererseits aber auch gemäß den dortigen Gesetzen die selben Inhalte zensiert und teilweise im staatlichen Besitz ist.

Meine Recherchen führten zu gewissen Spannungen zwischen mir und der US-Stiftung, mit der ich sonst recht gut zusammenarbeite. Denn anstatt den Wert der Zusammenarbeit zu begründen, der die Abwägungen einer Zensur entgegen der Wikimedia-Interessen entgegensteht, tat die Foundation so, als wüsste sie von nichts — mehr noch: als könne sie gar nicht wissen, was die saudiarabischen Kunden letztlich auf ihrem Handy sehen können und was nicht. Das stimmt natürlich nicht: Eine Liste von zensierten Seiten ist in der Wikipedia selbst zu finden, die Überprüfung ist für Wikimedia, die sich seit einiger Zeit als „Movement“ definiert und aktive Zuarbeiter vor Ort hat, trivial.

Natürlich ist es leicht moralische Ansprüche zu erheben nach dem Motto: Mit Zensoren arbeitet man nicht zusammen. Das halte ich aber nicht für zielführend. Sollte Wikimedia chinesische Nutzer aussperren, weil Wikimpedia wie viele andere Angebote zensiert wird? Natürlich nicht. Aber um Zensur verurteilen zu können, muss man sie schon benennen. Auf der einen Seite verurteilt die Stiftung Zensur und Einschränkung der Wissensverbreitung, auf der anderen Seite ignoriert sie sie.

Nun hat sich Jimmy Wales geäußert.

This deal, like many other deals with telecom companies around the world, allows end users to access Wikipedia without paying data charges. Per our longstanding principles, we do not condone or participate in any way in censoring Wikipedia on behalf of any government or organization. This applies in this case as well. Whatever censorship there is in Saudi Arabia (and there is censorship in Saudi Arabia) is imposed by a government-run proxy „run by the Communication and Information Technology Commission“. Neither we nor the ISP (mobile operator) has any control over that.

Deals like this involve a careful weighing of risks, of course. Some might argue that we should refuse to do partnerships to bring Wikipedia to more people, if it involves partnering in any way with any organization inside countries who practice censorship. My own view is more complex: we should evaluate such cases against two very firm principles: (1) First do no harm, i.e. we do not participate in censorship schemes ourselves no matter what offers might be made (2) we should maintain our fight against censorship in any effort to provide greater access to Wikipedia around the world.

I would be very unhappy indeed, if we ever agreed to participate in a censorship process.
Jimbo Wales 17:25, 5 November 2012 (UTC)

Hat die Wikipedia ein Caching-Problem?

Heute morgen sieht der Artikel über den Europäischen Tag des Fahrrads so aus:

Dass der Tag von Attac ins Leben gerufen wurde, ist falsch. Ich habe diesen Fehler schon am 28. Juni berichtigt. Die Änderung wurde auch bereits „gesichtet“, eigentlich ist alles OK. Dennoch: Wenn ich mir den Artikel im Browser ansehe, erscheint die alte Version.

Wenn ich mich jedoch mit einem alten Nutzer-Account einlogge, sieht der Artikel so aus:

Eine mögliche Erklärung: Zugriffe von nicht-eingeloggten Nutzern werden über Caching-Server geleitet — die für europäische Nutzer in Amsterdam stehen. Damit werden die eigentlichen Datenbankserver entlastet. Doch die Entlastung scheint mir etwas zu enthusiastisch zu sein, wenn nach über einem Monat gesichtete Änderungen immer noch nicht sichtbar sind.

PS: Mit einem Klick auf diesen Link konnte ich die veraltete Version auf dem Server löschen. Doch dies ist kein singuläres Problem: Ich habe immer wieder beobachtet, dass die Artikel, die mir als nicht-angemeldetem Nutzer angezeigt werden, stark veraltet waren.

Creative Commons in der Praxis: Alles über Wikipedia

Vor zwei Monaten präsentierten Wikimedia Deutschland und der Verlag Hoffmann und Campe das Buch Alles über Wikipedia – ein Buch zum 10. Geburtstag der Online-Enzyklopädie. Auch ich habe dem Projekt einen meiner Texte zur Verfügung gestellt, sogar kostenlos, da das gesamte Buch unter der Creative Commons-Lizenz Attribution Sharealike 3.0 Unported steht.

Nur was nutzt eine CC-Lizenz, wenn das Buch nicht digital zur Verfügung steht? Bisher sind bei Wikimedia Deutschland nur ein paar Texte online, die es offenbar nicht in die Print-Ausgabe geschafft haben. Nun — hier im Büro steht ein leistungsfähiger Scanner und ich besitze ein Programm zur Texterkennung. Wer also keine 17 Euro für eine Totholzausgabe ausgeben will, kann sich hier also das PDF kostenlos herunterladen, es überarbeiten und weiter verteilen. Dabei sollte man aber auf die Lizenzbedingungen achten: Die Lizenz muss angegeben werden, und die Autoren müssen genannt werden.

Alles über Wikipedia. (PDF)

PS: Kleines technisches Problem, jetzt ist die Datei komplett.

Das Problem mit Wikipedia-Politik

Als Wikimedia Deutschland 200.000 Euro zur Verfügung stellte, die für die „Community“ ausgegeben werden sollten, wurden mehrere Community-Vertreter gewählt, die über die Vergabe der Gelder mit bestimmen sollte. Keiner der Kandidaten konnte auch nur 50 Wikipedianer als Unterstützer gewinnen.

Beim ins Krawallige driftenden Streit ob man lateinische Schreibweisen gebräuchlicheren eingedeutschten Versionen im Artikel-Lemma bevorzugen sollte, sprechen sich 94 Wikipedianer für ein Meinungsbild aus, 71 lehnen es ab. 109 stimmen für einen Änderungsvorschlag der Regeln, 75 dagegen, 15 enthalten sich.

SEO: fake, steal and borrow

Ich hab mich mal in einem Porno-Webmaster-Forum umgesehen, um zu sehen wie die Leute ticken, die mit ewig gleichen schmierigen Filmchen ihren Lebensunterhalt verdienen, mit 0190-Dialern und Spam-Werbung viele User verarschten. Ich habe Expeditionen in Haustierforen unternommen und in einem Kochforum gelernt, dass „MGG“ für „Mein Götter-Gatte“ steht. Das Ergebnis: Irgendwie ticken alle Menschen gleich. Wenn sich auch die Terminologie ändert, die wesentlichen Zusammenhänge, der Umgang miteinander ist ähnlich.

Doch in manchen Milieus kann ich nicht heimisch werden. Ich verstehe die Leute nicht, ihre Denkweise, selbst mein Ironiedetektor versagt hoffnungslos. Eins dieser Milleus sind die SEO, die Search engine optimizer. So ehrenvoll das Ziel ist, den vielen Internetnutzern möglichst viele relevante Informationen an die Hand zu geben — nur wenige SEO-Werktätige scheinen das tatsächlich im Blick zu haben. So fiel mir heute ein Beitrag auf der Website WebmasterFormat auf, der sich mit der Wikipedia beschäftigt. Beziehungsweise mit der Bekämpfung der Wikipedia.

Es ist wahr: Google liebt Wikipedia-Artikel und manchmal werden Wikipedia-Seiten ganz an den Anfang der Google-Suche gespült, die nun wirklich keinen Mehrwert für den Nutzer bringen. Aber das ist nicht das, was den Autor Jason Capshaw aufregt. Was an der Wikipedia nicht stimmt: sie steht bei Google vor den Seiten, die er gegen Geld nach oben bringen will. Und das ist etwas, was unbedingt verhindert werden muss.

Dass sich Jason Capshaw einen Dreck um den Nutzer schert, offenbart er in seiner Anleitung. Zunächst will er den Wikipedia-Artikel etwas weniger beliebt erscheinen lassen:

Began removing the internal Wikipedia links pointing to the wiki page you want to jump. Do this slowly over time. It is best to point the link to another Wikipedia page so that the editorial staff doesn’t simply replace the link.

Mit einem verbogenen moralischen Kompass mag das noch angehen. Wikipedia profitiert unfair von ihrer Struktur, die so passgenau auf die Google-Algorithmen passt. Also stellen wir wieder fairen Wettbewerb her. Das wäre zumindest ein Gedanke, den man nachvollziehen könnte. Doch weit gefehlt: an fairem Wettbewerb ist Capshaw So wenig interessiert wie am Internet-Nutzer.

10. Go to the Wikipedia page and create some random content that is clearly not factual on the Wikipedia page
11. Take a screenshot of the content change and remove the bogus information from Wikipedia
12. Visit open site explorer again and look at all of the external links pointing to the Wikipedia page and export them to a spreadsheet
13. Go to each link pointing at the Wikipedia page and send them an email detailing the error of the Wikipedia page with the attached screenshot as proof. Describe how important it is that their readers get reliable information and offer your authoritative page as an alternative. Instruct them they should change their link immediately to point to your page. It is best to grab the email address from WhoIs of the Webmasters who own the site in order to get the best results.

Auf Deutsch: Capshaw empfiehlt Fehlinformationen in Wikipedia einzustellen, davon Screenshots zu machen und diese dann an Leute zu schicken, die den störenden Wikipedia-Artikel verlinken. Er verfälscht nicht nur aus purem Profitdenken eine gemeinnützige Wissenssammlung, er betrügt auch ohne jedes schlechte Gewissen Menschen, die ihren Nutzern ein paar gute Informationen zukommen lassen wollen. Dass Spam und Fake-Seiten zu seinem üblichen Repertoire gehören, wundert nicht.

Mit dem Blackhat und der Sonnenbrille im Artikel will Herr SEO Capshaw wohl sagen, er sei gewitzter und geschäftstüchtiger als all die Suchmaschinen-Lemminge da draußen. Das stimmt nicht. Er ist nur ein größeres Arschloch als die meisten.

Gehört BILD zum Weltwissen?

Philipp Birken fragt:

Ist Wikipedia was den Umgang mit aktuellen Themen und insbesondere lebenden Personen angeht eher FAZ, als eine Institution dessen, was sich Qualitätsjournalismus nennt? Oder eher BILD?

Die Antwort ist für Phillip Birken klar: die unsägliche Berichterstattung um Kachelmanns Sexualleben gehört nicht in die Online-Enzyklopädie, ebensowenig Lebensläufe, die aus Google-Schnippseln zusammengesetzt wurden und daher im besten Fall ein grob verzerrtes Bild einer Person wiedergeben.

Wichtige Aspekte, die via Google nicht so einfach zu finden sind, werden nicht erwähnt. Die Inkludisten bei Wikipedia sagen nun: Das wird sich mit der Zeit schon bessern, irgendwann kommt jemand, der weiß mehr. Nur: Die Erfahrung zeigt, das passiert nicht, bis dann irgendwann Y den Artikel findet und sich zu Recht beschwert.

Das ist natürlich ein gewisser Widerspruch zu der Alles-wird-schon-irgendwie-klappen-Haltung, die Jimmy Wales besonders in den Anfangsjahren gezeigt hat. Lasst den Leuten ihre Steakmesser, sie werden schon keinen Unsinn damit treiben. Doch als eine der meist abgerufenenen Webseiten der Welt ist Wikipedia kein Steakhaus, in dem erwachsene Menschen ein gepflegtes Mahl einnehmen. Eher ein Kindergarten, in dem rostige Messer das einzige Spielzeug sind. Oder das Zelt eines Messerwerfers, der mit verbundenen Augen den tödlichen Stahl auf eine rotierende Zielscheibe wirft. Und der manchmal sein Ziel verfehlt, da auf der Scheibe nicht nur seine ewig gleich proportionierte Assistentin angeschnallt ist, sondern Menschen von unterschiedlichstem Gewicht und Statur. (Genug der Metaphern.)

Als Konsequenz fordert Philipp eine Überarbeitung der Relevanzkriterien vor:

Was tun? Ich schlage vor, dass die bestehenden Relevanzkriterien mit zwei wesentlichen anderen Richtlinien in Wikipedia abgeglichen werden: Dem Neutralen Standpunkt und der zu Artikeln über lebende Personen. Kurz gesagt kann ein qualitativ guter und ethisch vertretbarer Wikipediaartikel über eine lebende Person nur dann geschrieben werden, wenn ausreichend neutrale Quellen zur Person vorhanden sind. Ist dies bei der Personengruppe, um die es sich in dem Relevanzkriterium dreht, nicht der Fall, wird das Relevanzkriterium entsprechend verschärft.

Wenn man das weiter denkt, müsste man eigentlich auf die Relevanzkriterien verzichten können. Letztlich ist kann die Frage nicht sein, ob ein Thema einen Artikel „verdient“, sondern nur ob ein Artikel gut gelingen wird.

Problematisch wird auf Dauer der Umgang mit Quellen. Philipp fordert ein Verbot, „Bild“ als Quelle zu verwenden und prognostiziert eiunen Niedergang von Qualitätsblättern wie der FAZ. Damit läuft Wikipedia auf ein Paradoxon zu: wie kann die Enzyklopädie besser sein als seine Quellen, wenn alles in der Wikipedia eben durch diese Quellen belegt werden muss? Wäre Wikipedia dann eine Sammlung von „Weltwissen“ oder eher eine zusammengestrichene Version der Medienrealität mit ein paar akademischen Einsprengseln?

Spannend ist noch ein Punkt, den Phillipp anspricht:

Die Wikimedia Foundation hat das Problem auf dem Schirm, so gibt es beispielsweise eine eigene Policy für Biographien lebender Personen und gerade eben hat sie eine Policy für den Umgang mit Photos lebender Personen verabschiedet. Nur bedeuten diese immer nur, dass die Communities in den Einzelprojekten angehalten sind, diese auch zu befolgen, nicht dass die Foundation diese durchsetzen würde.

Der Gedanke ist: Die Community wird es schon richten. Und wenn die Community es nicht richtet, kann die Wikimedia Foundation als äußerste Maßnahme den Stecker ziehen und eine Sprachversion eines Projektes abschalten.

Wikipedia ist Weltkultur – deal with it

Die Welterbe-Kampagne von Wikimedia ist grade angelaufen und die deutschen Medien (inklusive mir) reagieren folgsam darauf. Doch eigentlich ist Wikipedia ist längst Bestandteil der Welt-Kultur — egal was die Unesco sagen mag. Was hat gerade den Schulalltag von Hunderten Millionen junger Menschen in letzter Zeit mehr verändert als Wikipedia? Wo wird ein 13jähriger in seiner Freizeit Mal eben nachschlagen, wer dieser Michelangelo war, wie ein Dieselmotor funktioniert oder wer diese Madonna ist, die dauernd mit Lady Gaga verglichen wird?

Ich glaube nicht, dass die Aktion irgendeine Erfolgsaussicht hat. Statt sich beim immateriellen Welterbe oder beim Weltdokumentenerbe einzuordnen, möchte sich Wikimedia Deutschland die Wikipedia unbedingt in der elitärsten Liste verewigen, die die Unesco zu bieten hat. Nicht Flamenco und französische Küche sind vergleichbar mit Wikipedia, sondern die Große Mauer von China und die Pyramiden von Giseh. Das wird nicht passieren. Aber die Unesco öffnet sich gerade sowieso für digitale Güter, engagiert sich bereits für Meinungsfreiheit im Internet. Mit oder ohne Wikimedia-Kampagne wird Wikipedia in den nächsten Jahren auf einer Unesco-Liste auftauchen.

Tim Pritlove hat recht, wenn er bei Dradio Wissen erklärt, dass die Diskussion wichtiger ist als das Ergebnis, dass die Welt sich mit ihrer digitalen Kultur auseinandersetzen muss. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht nur die Gesellschaft muss reflektieren, wie sie mit digitalem Wissen umgeht, die Wikipedia muss reflektieren, wie sie als Kulturgut funktioniert. Denn die Autoren müssen sich nicht nur mit der ungeheuren Popularität der Plattform herumschlagen, die Artikelarbeit gerade in umstrittenen Bereichen schwerer macht, als es für viele erträglich ist. Sie muss sich auch damit auseinandersetzen, was sie selbst ist. Die Wikimedia Foundation hat grade die Parole ausgegeben, dass sie eine Bewegung, ein „movement“ ist und will so alle Strukturdiskussionen ersticken. Bezahlte Wikimedianer und freiwillige Aktivisten. Die allmächtige Wikimedia mit den Root-Rechten auf den Servern, die sich aber nicht traut, inhaltlich Partei zu ergreifen. Alles kein Problem für eine Bewegung, die gallertartig nachgibt, wenn man sie anstößt.

Einer der Kern-Streitpunkte in Wikipedia — der in 1000 verschiedenen Stellen ausgetragen wird — ist: Will die Wikipedia sich an der Hochkultur orientieren, das erprobte oder überkommene Prinzip von Enzyklopaedia Britannica und Brockhaus ausbauen? Ein neues Zerrbild der Geschichte, bunter als die Schulbücher die wir bisher kannten, aber den selben Prinzipien verhaftet? Oder will man selbst ein kultureller Marktplatz sein mit lebendigen Menschen? Wie viele Brüste und Schamhaarfrisuren soll die Wikipedia zeigen? Oder ist Erotik nur Kultur, wenn denn Michelangelo den Pinsel geführt hat? Kurzum: Was ist eigentlich dieses Weltwissen, das die Wikipedia abbilden will?

Noch spannender ist in meinen Augen aber die Frage der Selbstorganisation. Ursprungsgedanke war, dass die Wikipedia von jedem für jeden geschrieben wird. Von diesem Ansatz muss man sich verabschieden: Es waren von Anfang an wenige, die das Wissen in der Wikipedia bestimmten und noch weniger, die sich für die Projektorganisation interessierten. Die Beteiligungen an Abstimmungen ist minimal, das einzig verlässliche ist eine Haltung zur Blockade zur Erhaltung des Status Quo — egal wie verhasst er in Aspekten allen Beteiligten auch sein mag. Wenn Wikipedia nicht irgendwann wirken will wie in Stein gehauen, nicht wie die zerfallenen Ruinen einer vergangenen Zivilisation, muss sie sich nochmal verschäft mit sich selbst beschäftigen. Und endlich Mal zu Ergebnissen kommen.