Fakten zählen. Emotionen zählen. Und die Wahrheit?

Mike Daisey wurde mit standing ovations bei seiner letzten Vorstellung in New York verabschiedet. Der 40jährige hat einen ungewöhnlichen Job: Er ist Erzähler. Und in den letzten Jahren sorgte er mit seinem kraftvollen Monolog „The Agony and the Ecstasy of Steve Jobs“ für Aufsehen, in dem er unter anderem seine Reise zu den Werken im chinesischen Shenzen schildert, in denen iPhones und iPads hergestellt werden. Vor Ort wird er Zeuge von katastrophalen Arbeitsbedingungen: 14jährige Mädchen, die zu den dort üblichen 12-Stunden-Schichten antreten, Untergrund-Gewerkschafter, denen im vorgeblichen Arbeiterstaat China Gefängnis droht, verkrüppelte Menschen, die allein gelassen werden.

Doch Mike Daisey ist ein Lügner. Er war zwar in Shenzen, hat dort recherchiert, wurde aber eben nicht Zeuge der Vorgänge, die er beschreibt. Sein Monolog ist ein Potpourri aus Berichten, was man eben aus China so hört. Daisey nahm Stücke aus Recherchen echter Journalisten, ließ sich andere Geschichten selbst erzählen und auf der Bühne fügte er das zu einem Gesamtwerk zusammen, das eindrucksvoll, kraftvoll, erschütternd ist. Zwei Jahre tourt Daisey schon mit seinem Programm durch die USA und füllt die Säle. Er konfrontiert die Menschen mit der anderen Seite ihres Konsums.

Dass auf einer Bühne nicht die reine faktische Wahrheit gesprochen wird, ist nichts Ungewöhnliches. Doch die Produzenten von „This American Life“ kamen auf Daisey zu und fragten ihn, ob er nicht seinen Monolog für eine Sendung zur Verfügung stelle. Die Sendung, die ich sehr schätze, ist ein Format im Verbund des „National Public Radio“, das sich mit journalistischen und auch fiktiven Formaten einer Vielzahl von Themen nähert – vom Leben auf dem Schulhof bis zum Leben in Guantanamo. Unaufgeregt, besinnlich, denkanstoßend.

Mike Daisey erklärte sich einverstanden. Mehr noch: Er versicherte den Verantwortlichen der Redaktion, dass seine Erzählungen den Fakten entsprechen. Er schildere auf der Bühne die Wahrheit. Und beim aufwändigen fact-checking-Prozess arbeitete er mit. Doch an entscheidenden Stellen täuschte er die Redaktion. So log er den Redakteuren vor, dass er seine Übersetzerin aus China nicht mehr kontaktieren könne. Angeblich wollte er sie nicht behelligen, erzählt er später. Doch als ein Journalist sie tatsächlich ausfindig macht, erzählt sie eine ganz andere Geschichte. Ja, Mike Daisey sei in China gewesen und habe mit Arbeitern gesprochen. Doch die 14jährigen, die Verkrüppelten, Untergrundgewerkschafter im Starbucks – die hat sie nicht gesehen. Solche Leute existieren zweifellos im großen China, doch der Geschichtenerzähler hat sie nicht getroffen, nicht mit ihnen gesprochen.

Es ist ein Albtraum für jeden Journalisten. Da hat man eine Geschichte, die die Menschen tatsächlich zum Umdenken bewegen kann. Eine Quelle, der man vertraut. Und dann erweist sich alles als große Lüge. Redaktionsleiter Ira Glass zog die Notbremse und zog die Story zurück. Und widmete eine ganze Radiostunde diesem Versagen. Nach einem mea culpa kommt Glass jedoch schnell zu einer Konfrontation mit Daisey, bei der er alles andere als gut wegkommt. Dem großen Erzähler fehlen die Worte. Und als sie kommen, klingen sie nach billigen Ausflüchten. Ja, seine Arbeit mit „This American Life“ sei ein Fehler gewesen, den er aufrichtig bedauere. Nein, er habe tatsächlich Kinder gesehen – wahrscheinlich als die Übersetzerin grade wegsah. Nein, er stehe weiterhin zu seiner Arbeit, eine Arbeit des Theaters. Und zur Wahrheit. Dass er die Redakteure angelogen hat, kommt ihm nicht über die Lippen.

Nun hat Daisey die kontroversesten Stellen in seinem Vortrag zusammengestrichen und hofft, weiterhin beim Publikum anzukommen. Sein theatralisches Genie steht außer Frage. Doch wollen die Menschen bei einem so realistischen Thema sich auf einen fiktiven Holzweg führen lassen? Reicht das Dramatische, um einen Denkanstoß zu geben? Durch den Skandal jedenfalls haben alle, die ihm sowieso nicht glauben wollten, die sich mit dem Thema nicht beschäftigen wollten, eine ideale Ausrede. Arbeitsbedingungen in China? Alles Propaganda der Apple-Hasser.

Will das Publikum belogen werden? Ist die komplexe Wahrheit zu viel für uns? Als Journalist muss ich mich täglich damit herumschlagen, wie weit man die „Wahrheit“ herunterkochen kann. Wenn man immer alle Seiten und Standpunkte wiedergibt, entsteht allzu leicht unverständliches Wischi-waschi, das den Leser ratlos zurücklässt. Wir müssen auswählen, was wir transportieren. Und auf diesem Wege konstruieren wir ein Zerrbild, eine andere Realität. Ist das so viel anders als das, was Mike Daisey tat?

Ja. Denn Fakten zählen. Wenn ich etwas aufschreibe, verlassen sich die Redaktionen darauf, dass das stimmt, was ich schreibe. Dass ich nicht blindlings einer Quelle vertraue. Und die Leser haben auch einen Anspruch darauf. Doch Zeit zum Überprüfen ist oft knapp. Eine Folge ist, dass sich Journalisten tendentiell den einfachen Geschichten widmen. Oder dass wir die Verantwortung abwälzen. Phrasen wie „wie die Calwer Kreisnachrichten berichten“ sind ein einfacher Code für: „Dafür lege ich meine Hand nicht ins Feuer“. Und wenn wir einen „Experten“ zitieren, dann haben wir unsere Schuldigkeit getan. Wir können schließlich nicht alles wissen.

Und die Wahrheit? Also: die Wahrheit? Kann sie nur aus Fakten zusammengesetzt werden? Nein. Aber dafür gibt es Lösungen. Es gibt Kommentare, Reportagen, Essays, die allesamt Ebenen vermitteln, die nicht nur im staubtrockenen Faktischen angesiedelt sind. Und es gibt Comedy. So habe ich Ende vergangener Woche dieses tolle Stück in der „Daily Show with Jon Stewart“ gesehen, das ebenfalls eine Wahrheit transportiert. Auf polemische Weise. Mit provokanten Schnitten, die in einem journalistischen Format verboten wären. Mit Komik.

„Fakten zählen. Emotionen zählen. Und die Wahrheit?“ weiterlesen

Rough Fellows with inquisitive habits

Der ehemalige Polizeireporter und Fantasy-Bestsellerautor Terry Pratchett hat in seinem Buch „Thud“ wie immer einige Weisheiten zu Polizeiarbeit eingearbeitet:

There was, of course, the paperwork. There was always the paperwork. The trays were only the start. Heaps of it were ranged accusingly along one wall, and gently merging.* He knew that he had to do it. Warrants, dockets, Watch Orders, signatures — that was what made the Watch a police force rather than just a bunch of rather rough fellows with inquisitive habits. Paperwork: you had to have lots of it, and it had to be signed by him.

Ich mag ja solche Spitzen, weil sie sich so prima auf die Realität anwenden lassen. Zum Beispiel auf die Situation der Polizei in New York, die sich mit denen solidarisiert, die den lästigen Papierkram beiseite schoben und ihre ganz eigene Form der Justiz bis hin zur Bandenkriminalität ausbauten:

Prosecutors said the bulk of the vanished tickets were arranged by officials of the Patrolmen’s Benevolent Association, the city’s largest police union. All the officers charged with fixing tickets are either current or past union delegates or trustees.

As the investigation unfurled, the union played down its significance and consistently referred to ticket-fixing as “professional courtesy” inscribed in the police culture.

On Friday morning, on the street outside the courthouse, some 350 officers massed behind barricades and brandished signs expressing sentiments like “It’s a Courtesy Not a Crime.”

When the defendants emerged, many in the crowd burst into raucous cheers. Once they had gone and the tide of officers had dispersed, the street was littered with refuse.

Doch ist diese Bekundung der Solidarität mehr als fehlgeleiteter Kameradschaftsgeist? Doch — es gibt Grund für die Polizei, sich zu beklagen. Zwar nicht aus den Gründen, die führende Polizeifunktionäre immer wieder beschwören, wie Rafael Behr in der Zeit beschreibt:

An die Stelle von Gewalt trat in der Außendarstellung die Kommunikation, statt Schlagstock wurde soziale Kompetenz propagiert, statt des Körpers mehr Technik eingesetzt. Doch besonders uniformierte Schutzpolizisten nehmen bei ihrem Dienst auf der Straße seismografisch genau wahr, dass das nicht alles ist. Für sie wird die Arbeit schwerer, weil sich vor allem der Ton und die innere Haltung ihrer »Kunden« gegenüber dem Staat verändert zu haben scheinen. Polizisten werden wenig auf resignierte und aussichtslose Lebensperspektiven vorbereitet, auf die sie in solchen Begegnungen treffen. Resignation und Exklusion aber gehen häufig mit Aggression einher.

Neben gesellschaftlichem Wandel ist es auch immer wieder die falsche Politik, die Polizisten unter Druck setzt, die Erwartungen weckt, die auch von den pflichtschuldigsten Beamten niemals erfüllt werden können. So zum Beispiel beschreibt der Whistlerblower Adrian Schoolcraft von der New Yorker Polizei wie die Fixierung auf die Polizeistatistik und Aufklärungsquote Polizisten zu Kriminellen werden ließ, die Unschuldige verhafteten und Serientäter laufen ließen, um die Vorgaben zu erfüllen:

Post-Privacy auf AIDS in Afrika

Wenn wir über „post privacy“ sprechen, ist die Debatte oft etwas blutleer. Denn was aus unserer Privatsphäre ist tatsächlich noch skandalisierungsfähig? Wer sonntags zu Tatort twittert, kann kein so aufregendes Leben führen. Und Facebook weiß wirklich nicht wer wir sind — ein Blick auf die Anzeigen reicht dazu aus.

Viel spannender ist die Debatte in Afrika, wo die Interaktionen noch weitgehend analog ablaufen und eine tödliche Seuche grassiert: AIDS. In Malawi werden Klatsch und Gerüchte als Mittel der Gesundheitsvorsorge genutzt. Hat die Frau an Gewicht verloren? Sicher ist sie infiziert! Sieht sie etwas zu gut aus? Nun, wahrscheinlich schläft sie mit vielen Männern und nimmt AIDS-Medikamente. Wenn Du Medikamente nimmst, ist das zwar gut für Dich. Aber Du bist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Du warnst deine Schwester nicht vor dem Hallodri, von dem die Schwester Deines Tankwartes Deiner Friseuse was Böses gesagt hat? Wie unverantwortlich!

Wirklich spannendes Gedankenfutter von „This American Life“:

Eine Geschichte zur Filtersouveränität

Scott Krepel wurde ohne Gehör geboren. Doch im Alter von 12 Jahren eröffnete ihm die moderne Technik etwas Unglaubliches: Mit einem Cochleaimplantat konnte er plötzlich hören. Zumindest konnte er Geräusche wahrnehmen. Das Gefühl war überwältigend für den Jungen: endlich konnte er mit einer Welt Kontakt aufnehmen, die ihm bisher verschlossen war. Vom Zwitschern der Vögel bis zu dem banalen Geräusch einer Toilettenspülung.

Doch eins fehlte Scott: er konnte nicht filtern. Nicht zwischen den Worten seines Gegenübers und dem nervtötenden Rauschen der Klimaanlage unterscheiden. Ihm fehlte der Filter, der uns Hörenden ab frühester Kindheit antrainiert wurde. Folge: er konnte sich nicht konzentrieren — selbst seinen Sprachtherapeuten konnte er nach fünf Jahren immer noch nicht verstehen. Schließlich schaltete er das Implantat ab und vermisst das Hören seitdem nicht mehr. Auch wenn er durch einen Übersetzer mit anderen Menschen reden muss. Der übernimmt das Filtern für ihn.

Eine spannende Geschichte von „This American Life“:

Wer ist eigentlich Thilo?

Einer der Gründe, warum mich die unsäglichen Thesen des unsäglichen Thilo Sarrazin nicht wirklich interessierten: das abstruse Gehabe um ein Juden-Gen hatte ich schon vor anderthalb Jahren entdeckt und vor knapp zwei Jahren habe ich auch dieses schöne Stück Journalismus über die Harlem Children Zone gehört:

Zwei Erkenntnisse:

  • Vergesst den Müll über angeborene Intelligenz. Mit Liebe und positiver Ansprache kann man Kinder wirklich weiter bringen
  • Der Ausweg aus dem Teufelskreis Sozialhilfe dauert wohl leider mindestens eine Generation. Staatliche Programme, die alleine die Hilfsbedürftigen von heute im Blick haben, werden von der Zukunft überrannt.

P.S.: Jörg Albrecht und Volker Stollorz haben in der FAZ den aktuellen Stand der Intelligenzforschung zusammengetragen und zeigen, worauf sich der Bestseller-Autor Sarrazin stützt: Missverständnisse und eine Forschungsrichtung, die es nur langsam schafft mehr als die gesellschaftlichen Vorurteile abzubilden. Schön herausgearbeitet sind auch die Implikationen der Intelligenz-Debatte.

Wenn Intelligenz zum Teil erblich ist, Forscher aber keine Gene finden – wie passt das zusammen? Vielleicht liegt es daran, dass die Instrumente der Genetik nur solche Erbanlagen aufspüren, die sich negativ auf die Intelligenz auswirken. Dann wären wir alle von Natur aus Genies, sofern wir nicht eine oder mehrere seltene Mutationen tragen, die uns zu Durchschnittsdenkern machen.

Unter dem Artikel sind übrigens Bit.ly-Links zu zwei weitergehenden Quellen zu finden. Die ClickThrough-Rate ist jedoch gering.