Merkelphone — und nun?

Zunächst einmal: Ja, die Häme ist gerechtfertigt. Wir haben gesehen, wie der NSA-Skandal von der Bundesregierung öffentlich abgefertigt wurde. Optimisten konnten sich zwar irgendwie zusammenreimen, dass die Bundesregierung hinter den Kulissen daran arbeitet, der US-Regierung Grenzen aufzuzeigen. Falls es einen solchen Dialog gegeben haben sollte, so hat die Presseerklärung der Bundesregierung von gestern gezeigt: Dieser Dialog hat nichts gebracht.

Ob es den Dialog gegeben hat, kann man in Zweifel ziehen. So sagte Wolfgang Bosbach heute morgen im Deutschlandfunk:

…ich glaube, dass die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin auch deshalb so empört sind, weil gerade die Bundesregierung doch in ihren Reaktionen eher zurückhaltend war.

Diese Haltung ist merkwürdig. Es ist die Hoffnung, wenn man nur den Kopf unten hält, wird man schon nett behandelt werden. Doch Deutschland ist nicht Dänemark, Machtpolitik kann unsere Regierung selbst. Wenn ihr an dem Thema etwas liegt. In Sachen Autoindustrie halten wir unsere Köpfe auch nicht unten.

Im gleichen Interview wurde Bosbach noch etwas grundsätzlicher:

Nein, denn wir können nicht die Freiheit dadurch verteidigen, indem wir sie schrittweise abschaffen. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob ich Telekommunikation überwache bei begründetem Tatverdacht zum Zwecke der Gefahrenabwehr, oder ob ich weltweit Daten sammele, und zwar völlig unabhängig davon, ob ein Verdacht vorliegt oder nicht, nach dem Motto, wenn ich den gesamten Telekommunikationsverkehr überwache, auch von völlig unbelasteten unschuldigen Bürgerinnen und Bürgern, dann werden schon die Informationen dabei sein, die wir zur Gefahrenabwehr brauchen.

Was er da beschreibt, ist nicht nur die NSA-Ausspähung, sondern auch die Vorratsdatenspeicherung, die Bosbach sehr befürwortet. Hier wie dort geht es darum Daten von „unschuldigen Bürgerinnen und Bürgern abzuspeichern“ um dann nachher die Daten herauszufiltern, die man zur Gefahrenabwehr benötigt.

Der einzige Unterschied: Hier sollen die Daten bei den Providern zwischengelagert werden, dort landen die Daten direkt auf den NSA-Festplatten. Ist das genug Unterschied, um den Rechtsstaat auf der einen, aber nicht auf der anderen Seite zu sehen? Theoretisch vielleicht ja, praktisch jedoch nein. Wir haben in den letzten Jahren auch in Deutschland eine zunehmende Datenbankgläubigkeit und eine Aufweichung der Grenzen gesehen. Datenabfragen wie die Handyinformationen Zehntausender Demo-Besucher werden von den Gerichten routinemäßig abgefragt und landen dann in Dateien — irgendwo zwischen Geheimdiensten und Strafverfolgern. Ganze Stadien werden kriminalisiert. Männer zwischen 14 und 64 — haltet Eure DNA bereit.

Wenn die Bundesregierung auch nicht in der Lage sein mag, die NSA aus Deutschland auszusperren, wenn es naiv sein mag, dass man Geheimdiensten rechtsstaatliche Grenzen aufzeigen kann, kann die Bundesregierung ein Zeichen nach innen setzen.

Ich bin kein fundamentalistischer Vorratsdatenspeicherungs-Gegner. Wenn wir Autonummernschilder haben, wenn wir unsere Buchhaltung über 10 Jahre ablegen und auf Verlangen vorzeigen müssen, wenn wir biometrische Personalausweise akzeptieren und mit Fingerabdruck zahlen, dann fällt es schwer, den Online-Bereich als große Ausnahme zu definieren.

Doch warum sind die Argumente für die Vorratsdatenspeicherung nur so schlecht? Was Berlins Justizsenator — ich vermute Mal als Ansage für die Große Koalition (oder gar als Bewerbung für den Posten des Bundesinnenministers?) in der FAZ veröffentlichte spottet jeder Beschreibung.

Angefangen mit Statistik-Verblödung

der Bericht des CRIM-Komitees des Europäischen Parlaments, der in der vergangenen Woche erschienen ist, beziffert die Schäden durch Cyber-Kriminalität auf 290 Milliarden Euro. Jeder private Internetnutzer in Deutschland wird im Schnitt um mehr als 200 Euro im Jahr betrogen.

…über die Gesellschaftsphilosophie-Dribbling…

Die Frage stellt sich ähnlich im Privatsektor. Bekomme ich einen Vertrag, bei der Bank, bei dem Telefonanbieter oder bei der Krankenversicherung? Als Bürger weiß ich nicht, für wen ich ein Risiko darstelle und schon gar nicht, warum.

…hin zu „Ich kenne Kriminalität eigentlich nur aus dem Tatort“.

Straftäter, die das Internet missbrauchen, lassen sich durch solche Regeln leider nicht beeinflussen. Was sie tun, ist heute schon strafbar – theoretisch. Praktisch arbeiten die Täter aus der Distanz und bleiben unerkannt. Sie greifen mit ausspähender Hard- und Software an, die sie bequem im Internet bestellen können. […] Die Strafverfolgung ist auch deswegen erheblich erschwert, weil die Täter keine realen Spuren hinterlassen. Deshalb müssen die wenigen Spuren, die sie bei den Telekommunikationsunternehmen hinterlassen, dort sechs Monate erhalten bleiben.

Besonders bezeichnend fand ich die Begründung, warum er den Begriff „Vorratsdatenspeicherung“ nicht mehr will. Die Wahrheit ist — davon bin ich fest überzeugt — die Deutschen wollen keine Vorratsdatenspeicherung, selbst wenn sie nicht so recht verstehen, was das Wort bedeutet.

Das wird unter der etwas irreführenden Bezeichnung Vorratsdatenspeicherung diskutiert. Denn gespeichert wird dort nichts extra, sondern Daten, die da sind, werden heute schnell gelöscht – in der Regel zu schnell, um einige dieser Daten zur Ermittlung von Internettätern noch per Gerichtsbeschluss der Polizei zu übergeben.

Man kann sich das mehrmals durchlesen und es ergibt keinerlei Sinn. „Vorrat“ heißt nicht, dass es um eigens erfasste Daten geht, das steckt in der Wortbedeutung nicht drin. Daten werden mal schnell, oft viel weniger schnell gelöscht, und die Kriminellen, die Herr Heilmann benennt, wird man damit allesamt nicht ermitteln. Vielleicht aber erwischt man viel mehr Leute, die ein paar Musikalben oder Serien kostenlos aus dem Netz geladen haben — die zählen sicher zu den Schadenssummen, die Heilmann oben dem kleinen Mann zugerechnet hat. In Wahrheit sind es wohl 200 Euro, die der Verbraucher mehr zahlen soll, und damit nicht mehr in den zuweilen kreativen Verluststatistiken der Industrie auftauchten.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn die Bundesregierung sich über die NSA empört, kann sie Botschafter einbestellen und Handies austauschen — es ändert nichts. Wenn sie ein Zeichen setzen will, muss sie das hier tun. Und ihre Bürger nicht für doof verkaufen.