Das Ende der Anonymität

Der junge Mann versperrte mir den Weg. „Schönen guten Abend. Ihren Ausweis bitte?“ Ich war bester Laune. Sechs Monate Rucksacktour durch Indien, Sibirien und das Hochsauerland lagen hinter mir, wo ich meine Internet-Sucht — überhaupt mein ganzes Interesse an aktuellen Ereignissen der so genannten modernen Zivilisation — verloren hatte. Da konnte mich ein Türsteher doch nicht aus dem Tritt bringen. Aber was machte ein Türsteher vor einer normalen Kneipe?

„Ach, seid ihr jetzt auch eine Raucherkneipe?“, fragte ich. „Es reicht ja, wenn ich mit Kurt Tucholsky unterschreibe, stimmt’s?“ „Ähm, nein“, sagte der junge Mann, der mir immer noch den Weg in die Kneipe versperrte. „Es muss schon ihr echter Ausweis sein. Die neuen Vorschriften, Sie wissen schon.“ Ich wusste nicht.

„Na, das Anti-Anonymitäts-Gesetz. Der Friedrich. Jeder muss sich ausweisen an öffentlichen Plätzen. Wegen der Sicherheit.“ „Ach ja? Nun, denn. Um des Friedens willen.“ Ich reichte ihm meinen Personalausweis. „Ach, das ist so ein alter ohne Chip. Warten Sie bitte eine Minute“, Dann verschwand der Türsteher in der Kneipe, wo sicher schon meine Freunde warteten. Nach fünf Minuten kam er wieder, mit einer Kopie meines Ausweises. „Bitte nicht lächeln“, sagt er und hielt mir eine Digitalkamera ins Gesicht. Klick. Noch geblendet vom unvermuteten Blitzlicht torkelte ich in den Raum, der deutlich leerer schien als früher.

Doch bevor ich meine Geschichten von Expeditionen nach Essentho und Hoheleye erzählen konnte, berichteten mir meine zwei wartenden Freunde von einem unbekannten Land: Deutschland. Und wie es schien, war es ein glückliches Land. „Ja, zuerst hat uns der Realnamenzwang an jeder Ecke genervt“, sagt Lena, während sie eine einen Zahnstocher in millimetergroße Stückchen zerteilte. „Sobald man einen E-Ausweis hat, ist es kaum mehr der Rede wert. Du kommst an die Kneipentür, ein kurzer Piepton und der Türsteher weiß Bescheid.“ „Dann leih ich mir halt das nächste Mal Deinen Ausweis aus“, schlug ich noch amüsiert vor. „Natürlich, wenn Du so aussehen würdest wie ich. Natürlich wird prüft eine Kamera das biometrische Bild Deines Ausweises. Und das per Funk. Es klappt erstaunlich gut!“

In den nächsten zwei Stunden erfuhr ich, wie es so weit kommen konnte. Die Krawalle in Sindelfingen. Wie die immer mehr Autos in Köln brannten. Mittelklasse, nicht nur Oberklasse. Die erstaunlich effektive Kampagne der Jungen Polizei Niedersachsen. Der missglückte Bombenanschlag in Amsterdam. „Und als Friedrich die neuen Internet-Gesetze durchbringen wollte, sagte die Leutheusser doch glatt, dass dies eine Ungleichbehandlung wäre“, erklärte Ludger. „Ihr berühmter Satz war: In deutschen Kneipen werden wohl täglich mehr Verschwörungen geschmiedet als in Moscheen und Internetforen“. Und dann hat Friedrich halt die Konsequenz gezogen. Als Sabine dann abdanken musste, ging es plötzlich ganz schnell.“

Richtig Schub bekam die Sache dann aber erst mit dem neuen Personalausweis-Applet. „Du glaubst gar nicht, wie sehr die sexistischen Kommentare in meinem Blog abgenommen haben, seitdem ich nur noch eID-zertifizierte Kommentare zulasse“. Als ich sie verständnislos anstarrte, sagte sie: „Na was? Du hast doch auch Facebook Connect benutzt.“ Schließlich sei es doch besser, die Daten in unserem Land zu behalten, statt sie über den Atlantik zu schicken.

Ludger war immer noch beeindruckt, wie schnell die internationale Zusammenarbeit klappte. Selbst Sony akzeptierte die qualifizierte Signatur im Playstation Network. Wegen der Sicherheit. Und auch PayPal war schnell mit im Boot, als die Kartellbehörde wegen der US-Embargos nachfragte. Hinzu kam eine Anreiz-Politik. Wer dem Programm „Sichere Identität Deutschland“ beitrat, musste nur bei jedem zweiten Flug durch den Nacktscanner gehen. Und sogar die Piratenpartei installierte eine neue Instanz ihrer LiquidDemocracy-Software mit realen Identitäten für echte Piraten.

„Es ist eigentlich auch gut für die Selbstdisziplin“, sagte Lena während sie den dritten Teller Pommes Frites mit Käse verspeiste. „Ich zum Beispiel habe endlich aufgehört zu rauchen, seit ich Tabak-Packs nur mit Ausweis kaufen kann“. Zwar könnte die Krankenkasse noch bis mindestens 2015 nicht auf die Konsumdaten zugreifen. „Aber wer auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums nachgeschlagen, wie viel Alkohol, Fett und Tabak er pro Monat konsumiert hat, bekommt eine völlig neue Perspektive, glaub mir“.

Es war ein langer Abend, den wir bei Malzbier, Ovomaltine und zu vielen Pommes verbrachten. Um 23 Uhr verabschiedeten wir uns. Denn um 8 Uhr am nächsten Tag wollten wir gemeinsam unser Altglas wegbringen. Und dann wollten wir gemeinsam zur Blutspende.

Keine Frage: Das Deutschland, in das ich zurückgekehrt bin, ist ein besseres.