Zwei Missverständnisse zur Anonymität

Ich habe grade Mal „Anne Will“ eingeschaltet und erinnere mich lebhaft, warum ich das sonst nicht tue. Gerade beim Thema Anonymität verschanzen sich beide Seiten hinter Scheinargumenten.

Die eine Seite argumentiert, dass im Internet alle Hemmungen fallen und dass durch die Anonymität des Internets der Schmutz nach oben gespült wird, dass der Mob die Unschuldsvermutung ignoriert und sich selbst zum Ankläger und Richter erhebt. Verletzende Zitate finden sich zu Hauf.

Das sind Scheinargumente. Denn die Unschuldsvermutung bindet natürlich in erster Linie Institutionen. Der Bürger selbst kann jeden schuldig halten, den er will und darf dies — in Grenzen — natürlich auch ausdrücken. Das ist Meinungsfreiheit. Dass im Internet so einfach die übelsten Beschimpfungen zu finden sind, liegt zu einem großen Teil an einem einfachen Umstand: Außerhalb des Internets wird nicht immer jede Äußerung mitgeschrieben und ist nicht googlebar. Wenn in Kneipen, im Sportverein auf Kinderspielplätzen diskutiert wird, trägt niemand ein Gesetzbuch unterm Arm. Und wenn Missstände beobachtet werden, darf natürlich nicht alleine der Staatsanwalt Akten lautlos hin- und herschieben, bis der Richter sein Urteil gesprochen hat. Wenn mir jemand die Vorfahrt nimmt, wenn vor meinem Fenster ein Auto ein anderes rammt, gibt es kein Verbot darüber zu sprechen, was ich gesehen habe.

Die andere Seite erhebt die Anonymität zur wesentlichen Voraussetzung der Kontrolle von unten. Das ist bei Whistlerblowern, die Skandale im eigenen Haus aufdecken, selbstverständlich so. Für einen engagierten Plagiatsjäger, der in keiner direkten Beziehung zu dem vermeintlichen Plagiatoren steht, jedoch eher nicht. Eine Berichterstattung über die Plagiate wäre durch nicht-anonyme Plagiatsjäger nicht eingeschränkt oder verhindert worden. Journalisten lieben es, wenn sie jemanden anrufen können, wenn sie Nachfragen stellen können und etwas erklärt bekommen. Natürlich sind wir Journalisten gerade in solch gehypten Themen lästig, wir rufen an, wir stellen haufenweise Fragen, verstehen etwas falsch, zerren Personen an die Öffentlichkeit, die lieber für sich geblieben wären. (In meinem Eckchen des Journalismus bleibt mir das zum Glück weitgehend erspart.) Aber die Berichterstattung wäre nicht verhindert worden. So hätte ein kundiger Vroniplagger die Behauptungen des Herrn Chatzimarkakis on the fly korrigieren und in Kontext stellen können. Ich persönlich hätte aber auch keine Lust auf die Live-Konfrontation vor Millionenpublikum.

Viel realer sind jedoch andere Probleme, die dafür sprechen, anonym zu bleiben. Wer Geld hat, hat Anwälte — Abmahnungen sind schnell geschrieben und schwer wieder abgewehrt. Chefs und Kollegen haben politische Meinungen und Wikis können offenbaren, wer in der Kernarbeitszeit etwas machte, was mit seinem Haupt-Job nichts zu tun hatte (auch wenn derjenige die Zeit selbstverständlich durch Überstunden mehr als aufholt).

Nachtrag: Der britische „Guardian“ hat soeben auch einen interessanten Artikel bezüglich des Aspekts der medialen Vorverurteilung, oder im Polittalk-Jargon: des Scherbengerichts, des Prangers veröffentlicht. Leserredakteur Chris Elliott beleuchtet die Reaktionen auf die Crowdsourcing-Bemühungen aus den im Juni freigegebenen 13000 E-Mails aus der Gouverneurs-Zeit von Sarah Palin Berichtenswertes zu generieren. Um die Freigabe der E-Mails war ein gewaltiger Hype entstanden, der allerdings nichts zu Tage förderte.

Elliot schreibt:

There is plenty of journalistic digging that goes on that doesn’t reap a reward. […] The journalists involved still believe it was a worthwhile exercise. One said: „The aim of the original FoI [requests] was to get information to provide a portrait of a politician who at the time might have been vice-president or even president, and may yet be one of the contenders for the Republican nomination to take on Barack Obama next year. „

Ganz klar: natürlich müssen Medien solche Quellen durchforsten, wenn sie ihrer Wächterfunktion nachkommen wollen. Aber müssen sie so einen Bohei darum machen? Für Elliot ist das ein Teil des Medienwandels:

Fair enough, but the „ball-by-ball“ nature of our coverage, a growing and often successful method of real-time coverage on the web, meant we sounded way more excited about the emails than their substance warranted. Aspects of Sarah Palin’s life such as her religious zeal – especially when related to discussion of her son who has Down’s syndrome – and her language misfired for many readers.

Web techniques such as live blogging and crowdsourcing expose the process of a story in a way that has hitherto been largely hidden to readers, which is a good thing. But in future we should be much warier of the glee quota until we know what we have got.

Fassen wir die Lektion in seinem Satz zusammen: Wenn Recherche in der Öffentlichkeit stattfindet, dann verändert sie die öffentliche Wahrnehmung.