Die Legende vom allwissenden Netz

Karsten Polke-Majewski hat sich für die „Zeit“ dem Thema  Digitales Erinnern angenommen:

Denn das Netz speichert alles. Keine winzige Information, keine E-Mail, kein noch so peinliches Online-Foto, kein Twitter- oder Facebook-Eintrag, keine Buchungsanfrage beim Reiseanbieter ist jemals dahin. Die digitalen Speicher haben die Gesellschaft ihrer Fähigkeit zum Vergessen beraubt und ihr stattdessen ein umfassendes Gedächtnis verliehen.

Und wenn man es noch 100 Mal aufschreibt: es stimmt nicht. Jedenfalls nicht so ganz. Das Netz vergisst nämlich verdammt viel. Wenn ich meine E-Mails der letzten 10 Jahre lösche, werde ich sie nicht über die magische Cloud zurück bekommen. Sicher: eventuell hat noch der eine oder andere Kommunikationspartner ebenfalls den einen oder anderen E-Mail-Wechsel auf seiner Festplatte. Aber wie sollte ich den von Hunderten Leuten wieder bekommen? Wenn ich meine Bilder von Facebook lösche, wird sie niemand wieder finden. Sie sind einfach nicht peinlich, originell oder schön genug, als dass sie jemand anders gespeichert hätte. Und wenn ich Artikel aus dem Blog lösche, hat sie auch Google spätestens nach ein paar Wochen vergessen. Was übrig bleibt: Schnippsel, die andere zitiert haben und Links, die ins Leere laufen.

Wahr ist: Speichern ist billiger geworden. Verdammt billig. Und deshalb wird viel gespeichert. Verdammt viel.  Wer aber wahllos alles speichert, verschüttet die Informationen besser als im Kölner Stadtarchiv. Ja: Google fördert so manche Archivleiche zutage, aber den Anspruch der Vollständigkeit kann und will Google nicht erfüllen. Der Reiseanbieter wird nach der vorgeschriebenen Speicherfrist meine Buchungsdaten entsorgen, eventuell sind die genauen Daten noch auf irgendeinem Backup-Datenträger zu finden. Aber dort ist er zunächst aus dem Augen, aus dem Sinn.

Ebenfalls wahr ist: Dienste wie Google Mail bieten scheinbar unbegrenzten Platz an, Facebook gar will alle Kommunikationsströme des Lebens abspeichern. Aber heavy user wissen: das sind leere Versprechen. Der Platz ist begrenzt und irgendwann fallen die Daten hinten über den Speicherhorizont.

Wahr ist auch: selbst wenn die Details weg sind, wenn Google nicht mehr genau weiß, welche Mail ich genau wann an wen geschrieben habe — in meinem Adsense-Profil stehen wohl einige Meta-Informationen, an die ich einfach nicht herankomme. Haben mich die Bestellbestätigungen von Amazon als besonders kaufkräftig und kaufwillig geoutet, hat Google sich das vielleicht gemerkt. Bestimmt sogar. Da ist der Internetkonzern wie das menschliche Hirn: wir hören das, was wir hören wollen und wir merken uns das, was uns angeht. Oder vielmehr: das, von dem wir glauben, dass es uns angeht? Weiß Facebook dass ich heterosexuell bin, obwohl ich es nicht ins Profil gestellt habe?? Für die Datenbank-Magier sicher kein Problem. Aber wie will Facebook darauf Gewinn schlagen? Die Anzeigen, die ich bisher auf Facebook gesehen habe, waren jedenfalls ganz und gar nicht verlockend. Vielleicht liegen die Informationen quer verstreut in den Rechenzentren und Facebook hat sich diesen einen indiskreten Fakt schlichtweg nicht bewusst gemacht. Das heißt: keine Verknüpfung erstellt, das Sex-Bit nicht auf Null gesetzt. Oder 1?

Lange Rede, kurzer Sinn: Das Netz merkt sich verdammt viel. Aber bei weitem nicht alles. Letztendlich sind es doch nur die Menschen, die meist scheinbar wahllos und manchmal ganz gezielt den Informationswust umgraben und mit den Informationen machen, was Menschen mit Informationen so tun.

Club der toten BKA-Präsidenten

In den letzten Monaten sehe ich immer wieder grotesk wirkende Tickermeldungen, unter denen das Kürzel „dts Nachrichtenagentur“ steht. Laut Eigenwerbung ist der Vorteil dieser Nachrichtenquelle, dass sie besonders schnell ist und sich nicht mit unnötigen Dingen wie Korrespondentennnetzen oder Hintergrundberichten belastet.

Wohin das führt zeigt zum Beispiel diese Meldung:

Während seiner Zeit als Präsident des Bundeskriminalamts von 1965 bis 1971 hat der Spitzenbeamte Paul D. offenbar Zahlungen vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA erhalten. […] In den Akten findet sich etwa der Vermerk eines CIA-Mannes, der D. im Dezember 1968 in Wiesbaden traf. Bei dem rund einstündigen Treffen habe er D. auch „dessen Gehalt für den Monat Dezember“ und „sein Weihnachtsgeschenk“ übergeben. D. war während des Zweiten Weltkriegs SS-Untersturmführer und verstarb im Jahr 1973.

D Punkt? Warum haben die „Rechercheprofis“ den Namen abgekürzt? Weder der Deutschlandfunk, noch die taz hielten das für nötig. Auch die Vorabmeldung des Spiegel enthält den Namen Dickopfs. Hat die „Eilmeldungsagentur“ vielleicht solche Angst vor einem potenziellen Rechtsstreit, dass sogar Wikipedia-öffentliche Informationen einfach viel zu brisant sind?

Sperren und Löschen – warum nicht einfach beides?

Stefan Tomik kommentiert auf FAZ.net zum Ende der Websperren:

Nur einzelne Unionspolitiker blieben bis zuletzt dabei, dass solche Sperren das Löschen der Inhalte an der Quelle hätten ergänzen können. Dafür wurden sie als Ewiggestrige abgestempelt. Dabei hätte nichts dagegen gesprochen, beides parallel zu betreiben. Wenn es jetzt heißt, das Löschen funktioniere schneller als noch vor Beginn der großen Debatte über „Zensursula“, dann liegt das auch an einer verbesserten Zusammenarbeit im Kampf gegen Kinderpornographie, die es ohne diese Debatte wohl nicht gegeben hätte.

Da hat Tomik einen richtigen Halb-Gedanken. Denn eigentlich ist die Frage unvermeidlich: Warum benötigten wir die Debatte um Netzsperren um die internationale Zusammenarbeit zu verbessern? Ich schreibe nun schon seit 10 Jahren zum Thema — und kein Fachmann äußerte je einen Zweifel daran, dass die internationale Zusammenarbeit der Polizeibehörden dringend verbessert werden musste. Die wichtigsten juristischen Hürden waren bereits vor knapp fünf Jahren weitgehend beseitigt: Kinderpornografie war international geächtet und Microsoft vertrieb sogar schon ein Tool um Hashwerte von Missbrauchs-Bildern auszutauschen. Dennoch tat sich wenig.

Stattdessen bauten nach und nach Länder wie Großbritannien, Schweden, Italien in den letzten Jahren ihre eigenen Sperrsysteme auf — und plötzlich war die internationale Zusammenarbeit nicht mehr so drängend. Die Diskussion um Websperren in Deutschland hat enthüllt, dass nicht Mal in Europa ein geregelter Austausch von essentiellen Informationen bestanden hat. Der Erfolg der Maßnahmen wurde nie überprüft. Wenn ein Kinderporno-Ring mit Hunderten und Tausenden Verdächtigen in ganz Europa enttarnt wird, fragt niemand: wie kamen diese Menschen an den Sperren vorbei? Kein Wissenschaftler darf die Sperrlisten ansehen. Die für die britischen Internetsperren zuständige Internet Watch Foundation verweigerte mir gar Auskunft darüber, ob sie jemals eine Seite gesperrt habe, die schon zwei Jahre offline war. Die Botschaft: alles ist in guten Händen. Gehen Sie weiter. Es gibt nichts zu sehen! Und es gibt nichts, womit man Gipfeltreffen oder Fachkonferenzen belasten sollte. Unser System funktioniert jedenfalls prima! Sperren und Löschen? Die Frage stellte sich nicht. Sperren reichte ja schon.

Selbst wenn Websperren keinen negativen Effekt hätten, selbst wenn Staaten das Mittel nicht dazu nutzen wollten ihre Glücksspieleinnahmen oder Staatsdogmen zu sichern, selbst dann ist die Frage zu stellen: haben die Websperren nicht dazu beigetragen, sinnvolle Schritte zu verhindern?

Koalitions-Kompromisse

Es heißt, man sollte weder bei Wurst, noch bei Gesetzen zu viel über die Entstehung erfahren. Also seht schnell weg:

Die Koalition will Kinderpornos im Internet löschen statt sperren. Damit hat sich in der Koalition die FDP durchgesetzt. Der geplante Verzicht auf Websperren gegen Kinderpornos liegt der Unions-Fraktion aber schwer im Magen. Führende Unions-Abgeordnete fordern dafür Gegenleistungen der FDP bei den Anti-Terror-Gesetzen. „Einen Verzicht auf Internet-Sperren gegen Kinderpornografie wird es nur geben, wenn gleichzeitig zahlreiche befristete Anti-Terror-Befugnisse der Geheimdienste entfristet werden“, sagte Fraktionsvize Günter Krings (CDU) der Neuen Osnabrücker Zeitung

Gerüchten zufolge wird bei der nächsten Koalitionsverhandlung eine Jungfrau in einen Vulkan gestoßen. Der Triumpf der Unvernunft wird als wertvolle Verhandlungsmasse dienen, um ein paar Wochen einfach das Richtige zu tun.

Netzsperren: Drei verpasste Jahre

Im Oktober 2008 habe ich meinen ersten Artikel über das Gesetz geschrieben, was später als „Zensursula“ bekannt wurde.

In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt erklärte die Ministerin: „Wir schließen die Datenautobahn der Kinderpornographie.“ Die Abgeordneten des Bundestages seien über alle Parteigrenzen hinweg bereit, eine entsprechende Gesetzesinitiative zu unterstützen.
Ziel der Sperre sei die steigende Zahl von kommerziellen Seiten, die Kinderpornographie verbreiten. „Ich zerstöre da einen lukrativen Markt, der auf dem Rücken zerschundener Kinder aufgebaut ist. Es ist unsere Pflicht, aktiv zu sein“, sagt die Ministerin. „Ich will einen Damm bauen gegen die Flut der Bilder, indem wir den Zugang für den Kunden blockieren.“ Entsprechende Bilder wirkten oft wie eine Einstiegsdroge für den Konsumenten, der einfache Zugang sorge für einen „permanenten Hunger nach Nachschub“. Auf den Listen des Bundeskriminalamtes (BKA) seien schon über 1000 Webseiten verzeichnet.

Zweieinhalb Jahre ist das her. Es wird weitere Monate dauern, bis das Zugangserschwerungsgesetz endlich aus den deutschen Gesetzbüchern verschwunden ist. Und dann steht ja noch die Auseinandersetzung auf EU-Ebene an.

In diesen drei Jahren habe ich wie viele andere – entschuldigt das Wort – Netizens einen Aufbaustudiengang Realpolitik gemacht. Bis heute glaube ich, dass viele der beteiligten Politiker gute Absichten hatten. Doch in dieser Zeit haben wir plumpe Lügen gehört, Unverstand, Spitzfindigkeiten. Wir haben gesehen, wie ernste Themen zur politischen Verhandlungsmasse wurden. Wir sahen Profis beim Taktieren zu, lernten neue Arten der Intrige kennen und konnten nichts machen als immer wieder zu sagen: Das ist der falsche Weg. In der Zeit habe ich auch viel über Kindesmissbrauch gelernt. Mir blieb die Horrorshow erspart, die Bilder anzusehen, die auf den Festplatten so vieler Computer liegen. Unmenschlicher Nervenkitzel? Krankhafte Triebe? Und das Leid der Kinder — da möchte man gerne die Augen verschließen.

Man könnte nun sagen: Ende gut, alles gut. Wie haben alle etwas gelernt. Dank „Zensursula“ wurde eine scheinbar in Konsum und Privatleben verlorene Generation wieder politisiert. Und das vermeintliche Tabu Kindesmissbrauch wurde wieder ans Licht gezerrt, so dass jetzt vernünftige Maßnahmen zur Bekämpfung des Leids ergriffen werden können.

Doch wenn wir uns die Bilanz ansehen, ist da ziemlich wenig. Wir haben keine Ersatzpläne. Nach wie vor wissen wir viel zu wenig über den realen Kindesmissbrauch. In der Zeit, in der um die symbolische Netzsperre gerungen wurde, sind keine wissenschaftlichen Studien entstanden, die uns weiter helfen könnten. Wir haben weiterhin kaum Präventionsangebote, die Pädophilen helfen nicht zum Täter zu werden. Oder denjenigen, die keine pädophile Neigungen haben und dennoch Kinder missbrauchen.

Dass Bilder von Kindesmissbrauch im Internet getauscht werden, können wir nicht gänzlich verhindern. Es ist eine inhärente Eigenschaft der Freiheit. Die Unverletzbarkeit der Wohnung, dicke Wände verhindern auch, dass wir den alltäglichen Missbrauch in den Wohnungen sehen. Trotzdem greifen wir nicht zu Abrissbirnen und Vorschlaghämmern, um Gucklöcher in die Wände von Kinderzimmern zu schlagen.

Die drei Jahre sind weitgehend verloren. Wir stehen noch immer ratlos vor der Realität.

Unternehmerjournalismus

Immer wieder höre ich Appelle, dass Journalisten sich doch immer mehr als Unternehmer begreifen sollten. Zum einen ist das eine Selbstverständlichkeit: weite Teile der Arbeit in Medien wird von „Freien“ gemacht, die sehen müssen, dass sie Aufträge bekommen und Themen besetzen. Also: ich bin schon Unternehmer. Was sollen also die nicht enden wollenden Appelle?

Mein Unbehagen an der Sache beschreibt Hans Leyendecker in einem Artikel über eine Studie, die sich mit der „Bild“ beschäftigt.

Was immer Bild treibe, schreiben Arlt und Storz, diene „primär der Selbstdarstellung des Blattes und nur als Nebenfolge der Informationsvermittlung“. Was an Bild Journalismus sei, habe „eine dienende Funktion, nicht für das Publikum, sondern für die Marke Bild“. Das Massenmedium tritt demnach hauptsächlich als Öffentlichkeitsarbeiter für seine eigene vermeintliche Wichtigkeit auf – um Geschäfte zu machen. An Bild gehe kein Weg vorbei, ist die gewünschte Botschaft. Auch für Unternehmen.
[…]
Nach den Feststellungen der Autoren „dramatisierte, moralisierte, emotionalisierte, personalisierte“ Bild nimmermüde das Thema. Rund zwanzig Sätze mit durchschnittlich 220 Worten habe ein durchschnittlicher Bild-Bericht, lernt der Leser der Studie. Na und? Weit interessanter als diese Zählerei ist die These von Arlt und Storz, die Griechenland-Kampagne sei weniger eine misslungene politische Mission gewesen als ein „Instrument des Reputations- und Markenmanagements“: Bild habe sich als Wächter der vermeintlichen Interessen des deutschen Steuerzahlers geriert. Ein politischer Erfolg der Griechenland-Kampagne sei aber von Anfang an zweitrangig gewesen.

„Bild“ ist ein erfolgreiches Unternehmen. Wenn ich also mehr Unternehmer sein soll, soll ich vielleicht mehr wie die Boulevardzeitung sein? Bedeutet mehr Unternehmer zu sein nicht auch, dass ich etwas weniger Journalist sein sollte? Recherchen kostenoptimieren. Skandale schüren, so lange sie Leser bringen? Provokante Thesen suchen — nicht weil ich an sie glaube, sondern weil sie meinen Namen nach oben bringen? Querfinanzierungen suchen, meine Expertise in Beraterverträge und Nebenjobs ummünzen?

Ja: Unternehmertum bedeutet auch Freiheit, Mut zur Kreativität, neue Wege ausprobieren. Geschichten schreiben, die in den alten Verlagsstrukturen keinen Platz hatten. Aber die Verlockungen sind groß, den falschen Weg zu nehmen.

Quellennachweis, nachgeholt

Aus der Bönningheimer Zeitung Online:

In der Meldung „Gangolf Stocker gibt Amt auf“ vom 29. März vermisst der Fotograf Michael Beckenkamp in Freiberg bei Stuttgart unter dem Bild Stockers einen Hinweis auf seine Urheberschaft. Beckenkamp gibt an, das Foto am 16. Oktober 2010 bei Wikipedia hochgeladen zu haben. Er kann nicht ausschließen, dass uns das Bild über Stocker selbst erreicht hat, weil er, Beckenkamp, es diesem schenkte, gleichwohl: Wir holen hier den Hinweis nach. Unterm Bild hätte die Quellenangabe „Foto: Mussklprozz/ Wikipedia“ stehen müssen. Mussklprozz schreibt sich wirklich so.

Twitter als Kommunikations-Überholspur? Oder eine Gated Community?

Viel Häme haben sich die Hauptstadtjournalisten mit der wirklich skurrilen Fragestunde zu den Twitter-Aktivitäten im Bundespresseamt eingehandelt. Wie kann man im Jahr 2011 Twitter nicht kennen? Was sollen die albernen Fragen? Da wird die Regierung mal etwas offener und die Hauptstadtjournalisten fürchten um ihr Herrschaftswissen!

So nachvollziehbar die Reaktion auf die Vorstellung aus dem „Raumschiff Berlin“ ist, nach ein paar Tagen sollte man anfangen Mal etwas darüber nachzudenken. Natürlich ist Hauptstadtjournalismus ein extrem arbeitsteiliges Geschäft. Die Personen, die in der Bundespressekonferenz sitzen, müssen in der Regel nicht mit Twitter arbeiten. In meinen Augen sollten sich Kommunikationsarbeiter mit neuen Medien auseinandersetzen, aber ich will mir da kein abschließendes Urteil erlauben. Vor fünf Jahren wurde ihnen erzählt, sie müssten Second Life lernen. Ein gewisses Misstrauen, eine gewisse Trägheit ist verständlich.

Journalisten als „vierte Gewalt“ haben die Aufgabe, die Regierung zu überwachen. Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass die Journalisten die notwendigen Informationen bekommen. Wenn also Reisen von Angela Merkel zuerst über Twitter angekündigt werden, mag das für uns Außenstehende wie eine Petitesse erscheinen – sie sorgt aber dafür, dass komplette Arbeitsprozesse umgelegt werden müssen. Die Journalisten, die im Zweifel am Samstagabend alleine am Schreibtisch sitzen, müssen die Nachrichten aus den verschiedensten Kanälen abgleichen. Gehen relevante Informationen über einen neuen Kommunikationskanal, müssen sie diesen in ihre Arbeitsmittel integrieren. Mit einem Twitter-Account alleine ist es da nicht getan – die Medien müssen auch ständig einen aktuellen Überblick haben welcher Politiker tatsächlich twittert, welche Fake-Accounts unterwegs sind. Noch schlimmer: Sie müssen sich mit ironischen Kommentaren, schlechten Wortwitzen und haufenweise uninformierten Missverständnissen herumschlagen. Und das für ein nicht greifbares Endergebnis: Ich als Leser blättere weiter, wenn ein Zeitungsjournalist Twitter-Anekdoten zum Besten gibt.

Gleichzeitig nutze ich Twitter intensiv und gerne. Grade eben habe ich mit einem Tweet eine Frage an DradioWissen geschickt, die wenige Minuten später auf Sendung beantwortet wurde. Früher hätte ich womöglich eine Hörer-Hotline anrufen müssen und meine Frage wäre vielleicht ans Ende der Sendung gestellt worden, wo sie dann natürlich aus dem Kontext gerissen worden wäre. Ebenfalls kann ich Mal eben einem Spitzenpolitiker einen kleine Frage an den Kopf werfen und bekomme tatsächlich sofort eine Antwort von ihm. Das Zeitalter der neuen Offenheit ist da. Jeder aus dem Volk kann die Regierenden endlich zur Rede stellen. Yay!

Das Problem: nicht jeder kann es. Auf dem Web Content Forum in Köln sagte der General Manager von Welt Online: Das iPad ist noch kein Massenmedium, es ist noch nicht in der U-Bahn, nicht auf dem Spielplatz angekommen. Selbst wenn jeder ein iPad hätte und von dort seine Twitter- und Facebook-Aktivitäten steuern würde – wer würde es für einen direkten Dialog mit „der Politik“ nutzen. Wer aggregiert sich den Reiseplan von Frau Merkel zusammen und lässt das in seine Wahlentscheidungen einfließen? Entsteht über die Kurz-Kurz-Echtzeit-Kommunikation ein wirklicher Dialog?

Vorläufige Diagnose: Wir „Twitter-Kinder“ (so nannte es Julia Seeliger eben auf DradioWissen) sind noch ein ziemlich kleiner Haufen — und ziemlich homogen dazu. Akademiker-Kinder unter sich. Wir repräsentieren das Volk besser als jeder Deutschlandtrend und wissen besser Bescheid als jeder Fachmann. Über alles. Und je nach politischer Meinung und persönlichen Vorlieben bilden wir Blasen, in denen wir nur mit Gleichgesinnten zu tun haben. Ein bisschen Widerspruch mag vorkommen, aber das nur am Rande, als intellektuelle Herausforderung. Wer nicht in unser Schema passt, wird entfollowt. Twitter ist das Äquivalent einer „gated community“, in der sich die Wohlhabenden eines Landes von der normalen Bevölkerung abgrenzen. Doch statt elektrischen Zäunen, Wachmännern und Videoüberwachung benötigen wir nur unsere Kommunikationsfilter. Ist das die Zukunft der Kommunikation?

Nachtrag: Stefan Niggemeier hat für die FAZ bei den Hauptstadtjournalisten nachgefragt:

Sarah Palin ist eine Warnung dafür, wie Politiker, die etwa über Facebook direkt mit den Wählern kommunizieren, sich kritischer Nachfragen durch Journalisten entziehen können. Am vergangenen Mittwoch zeigte sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu auf Youtube und beantwortete dort vorher ausgewählte Fragen von Bürgern. Die Presse meint, er tue das auf Kosten klassischer Interviews. „Er versucht die ganze Zeit, uns zu umgehen“, sagt der Sprecher des Journalistenverbandes. „Wir glauben, dass jeder Staatsbedienstete sich Journalisten und ihren Fragen stellen muss.“

Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Beleidigtsein von Journalisten, die ihrem Informationsmonopol nachtrauern, und der berechtigten Sorge, ob Politiker sich ihrer Rechenschaftspflicht entziehen.