Alternate Wiki-Reality

Coleen Rowley, FBI-Whistlerblowerin mit politischen Ambitionen springt auf den Wikileaks-Zug auf und stellt in einem Kommentar in der Los Angeles Times die Frage:

If WikiLeaks had been around in 2001, could the events of 9/11 have been prevented?

Dass die US-Sicherheitsbehörden bei dem desaströsen Anschlag 2001 spektakulär versagt haben, ist durch die Aufarbeitung der Vorgänge bekannt: Hinweise wurden ignoriert, wichtige Fakten wurden von einer Behörde nicht zur anderen weitergegeben und die Verantwortlichen sprachen zwar immer wieder vom Terrorismus, glaubten aber nicht so recht daran. Zumindest nicht an einen Anschlag in dieser Dimension.

Rowley glaubt, Wikileaks hätte damals den Anschlag zumindest verzögern können, wenn sie oder ihre Kollegen Hinweise auf einen Verdächtigen bekannt gemacht hätten.

Following up on a tip from flight school instructors who had become suspicious of the French Moroccan who claimed to want to fly a jet as an „ego boost,“ Special Agent Harry Samit and an INS colleague had detained Moussaoui. A foreign intelligence service promptly reported that he had connections with a foreign terrorist group, but FBI officials in Washington inexplicably turned down Samit’s request for authority to search Moussaoui’s laptop computer and personal effects.

WikiLeaks might have provided a pressure valve for those agents who were terribly worried about what might happen and frustrated by their superiors‘ seeming indifference. They were indeed stuck in a perplexing, no-win ethical dilemma as time ticked away. Their bosses issued continual warnings against „talking to the media“ and frowned on whistle-blowing, yet the agents felt a strong need to protect the public.

Doch Rowleys argumentiert alleine mit den Versäumnissen der Behörden, ignoriert aber die Fähigkeiten und Dynamik einer Plattform wie Wikileaks. Die Realität ist: Hätte Rowley selbst leaken wollen, hätte sie es auch damals tun können. Wikileaks hat das Whistleblowing nicht erfunden. Und selbst wenn Wikileaks existiert hätte: Rowley hätte ihre Erkenntnisse wohl nicht dort eingereicht.

Stellen wir uns aber trotzdem mal vor, Rowley hätte 2001 ihre Hinweise der damals schon real existierenden Webseite Cryptome oder dem Drudge Report gegeben. Die Story war: FBI-Agenten beschweren sich darüber, dass sie nicht gegen einen Ausländer vorgehen dürfen, der nicht gegen das Gesetz verstoßen hat und der sich den Kindheitstraum erfüllen will. Der Mobilisierungseffekt der Öffentlichkeit wäre wohl denkbar gering gewesen. Gleichzeitig wäre Rowley als Tippgeber leicht zu identifizieren gewesen. Da hätte sie auch gleich mit den Medien reden können und hätte eine wesentlich höhere Chance gehabt, dass dies zu den gewünschten Konsequenzen geführt hätte.

Zum anderen: Wikileaks als kurzer Dienstweg für Behörden mit Hunderttausenden Geheimnisträgern wäre hoffnungslos überlastet. Da die Plattform sich grundsätzlich gewandelt hat, muss man vielleicht differenzieren:

    • Das Wikileaks von 2009 hätte den FBI-Bericht vielleicht ohne weiter Analyse online gestellt – doch wer hätte das Puzzlestück im Terror-Plan identifizieren sollen und mit anderen Puzzlestücken verknüpfen sollen? Die Wikileaks-Aktivisten selbst hätten nur eine Chance gehabt, wenn sie in den unterschiedlichen Diensten des US-Sicherheitsapparat verdrahtet gewesen wären. Das sind sie aber nicht. Und dass die breite Öffentlichkeit dieses insignifikant erscheinende Detail in die korrekten Zusammenhänge gestellt hätte, ist ebenfalls sehr, sehr unwahrscheinlich.
      Das Wikileaks von 2010 hätte die FBI-Information hingegen gar nicht online gestellt, da die Nachricht nicht spektakulär gewesen war und nicht in die von den Betreibern gewünschten Narrative hinein passt.
  • Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass eine Wikileaks-Publikation den Plan auf unvorhersehbare Weise zum Scheitern gebracht hätte. Aber die Internet-Plattform wäre wohl nicht mehr gewesen als der Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag letztlich auf der anderen Seite der Erde einen Tornado auslöst. Wikileaks verlinkt zwar gerne auf den schmeichelhaften Artikel. Die ehrliche Antwort ist aber klar: Nein, Wikileaks hätte den 11. September nicht verhindert.